Interview zur Bundestagswahl CDU-Spitzenkandidat Braun: "Wir haben kein Kandidatenproblem"
Corona, die Flutkatastrophe oder das Debakel beim Afghanistan-Abzug - Kanzleramtschef Helge Braun hat mit vielen Krisen zu tun. Und dann fährt die CDU vor der Bundestagswahl auch noch miese Umfragewerte ein. Im Interview verrät der Spitzenkandidat, wie er damit umgeht.
Helge Braun (48) ist die rechte Hand der aus dem Amt scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Der promovierte Mediziner aus Gießen gehört als Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Kanzleramts zu den wichtigsten Köpfen in der Bundespolitik. Er führt die hessische Landesliste bei der Bundestagswahl an. Im Interview mit hessenschau.de in der Wähl-Bar des hr sprach Braun über den Wahlkampf, die Corona-Politik und seine Zukunft nach dem 26. September.
hessenschau.de: Haben Sie - als ehemaliger Narkose-Arzt - schon mal solch einen einschläfernden Wahlkampf erlebt wie jetzt?
Helge Braun: Es gibt immer ein Auf und Ab - auch mit kritischen Diskussionen über die Kandidaten. Aber es geht um die Frage: Wer hat das Zeug, Deutschland als Kanzler zu führen? 16 Jahre Angela Merkel gehen bald zu Ende. Das ist eine Epochen-Wende.
hessenschau.de: Aber so angespannt wie derzeit war die Lage für die Union angesichts historisch niedriger Umfragewerte wohl noch nie.
Braun: Die vergangenen Wochen waren stärker vom Regierungshandeln geprägt als vom Wahlkampf. Denn die Corona-Krise ist nicht vorbei. Die vierte Welle ist da. Uns haben die Starkregen-Ereignisse und der Truppenabzug in Afghanistan in Atem gehalten. Man kann und darf dann nicht umschalten und fröhlich Wahlkampf machen. Das ist schwierig, wenn man Krisen bewältigen muss. Wir haben viel Verantwortung, die wir in kritischen Situationen wahrnehmen müssen.
hessenschau.de: Derzeit profitiert die SPD von der Situation. Sie nimmt in den Umfragen zu, die CDU verliert. Wie viel Sorge bereitet Ihnen das?
Braun: Wir sind mitten im Wahlkampf. Es geht um abgegebene Stimmen und nicht um Umfragen. Wir haben im Bundestag die Entscheidung getroffen, eine Rettungsmission für unsere Ortskräfte in Afghanistan durchzuführen. Die Linkspartei hat sich nicht anschließen können.
Deshalb muss man darauf hinweisen, dass SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz bis heute nicht ausschließt, mit der Partei "Die Linke" auch eine Regierung zu bilden. Das finde ich bedenklich. SPD und Grüne müssen sagen, ob sie bereit sind, mit denjenigen eine Regierung zu bilden, die selbst eine so eindeutige, auf die Rettung von Menschenleben ausgerichtete Mission abgelehnt haben.
hessenschau.de: Wieder das Schreckgespenst einer rot-grün-roten Regierung aus der Kiste zu holen - ist das nicht uninspiriert als Wahlkampf-Taktik?
Braun: Da das Thema real ist, ist es kein Schreckgespenst, sondern eine Frage für die Zukunft. Es kommen auch andere Themen hinzu: Wir sind uns in der Politik einig, dass wir in den nächsten Jahren Klimaneutralität bis 2045 herstellen wollen. Da ist die Frage: Tun wir das mit marktwirtschaftlichen Methoden, sodass die Bürger und Unternehmen nicht finanziell überfordert werden? Bleibt die Pendlerpauschale erhalten, für alle, die täglich zur Arbeit fahren? Das sind auch soziale Fragen, bei denen wir als CDU überzeugen können.
hessenschau.de: Bei allen Verweisen auf Sachfragen: Haben Sie nicht ein Kandidatenproblem? Armin Laschet macht zuweilen eine schlechte Figur. Er ist in den Umfragen nicht gerade beliebt, zwischenzeitlich wollten ihn 70 Prozent der Unionswähler nicht mehr. Wäre ein anderer Kandidat besser geeignet?
Braun: Wir haben kein Kandidatenproblem. Personaldiskussionen und Stimmungsbilder sind müßig. Armin Laschet ist erfolgreicher Ministerpräsident von NRW. Er hat das Zeug, ein guter Kanzler zu werden. Was im Wahlkampf falsch läuft, ist der Fokus auf Personalfragen. Es geht um Inhalte. Etwa bei der Inneren Sicherheit und der Frage, wie wir uns gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus wappnen. Es gibt genug Themen. Ständiges Kreisen um Personalfragen bringt uns nicht weiter.
hessenschau.de: Sie sind als Chef im Kanzleramt im Dauerkrisen-Modus und stehen wegen Corona und dem Desaster um den Afghanistan-Abzug auch in der Kritik. Erstens wegen der Lockdowns, zweitens wegen des schnellen Wiedererstarken der Taliban. Als Vorgesetzter des Bundesnachrichtendienstes betrifft das auch Sie. Welche Note geben Sie sich als ehemaliger Musterschüler (Abitur 1,0)?
Braun: Im Vergleich zu vielen europäischen Ländern sind wir gut durch die Coronakrise gekommen. Wir haben eine niedrigere Übersterblichkeit, denn wir waren vorsichtig. Wir haben nicht nur auf die Gesundheit geachtet, sondern mit wirtschaftlicher Stabilisierung dazu beigetragen, dass Deutschland gut durch die Krise kommt. Laut Bundesbank werden wir noch in diesem Jahr das Vor-Krisen-Niveau erreichen. Ich bin überzeugt, dass wir es in der Coronakrise richtig gemacht haben.
hessenschau.de: Und wie sind der Triumph der Taliban und die Blamage für den Westen zu erklären?
Braun: In Afghanistan hat sich eine schnelle Dynamik ergeben. Damit hat niemand gerechnet, auch viele Afghanen nicht. Es ist ein Bild von sich überholenden Ereignissen an einem einzigen Wochenende entstanden. Nicht nur der Westen wusste nicht, was passiert. Die Aufgabe der Aufklärung ist es, Fakten zu sammeln und darauf hinzuweisen. In diesem Falle war es ein schneller Lauf der Geschichte.
hessenschau.de: Zurück zu Corona: In der Gesellschaft ist eine große Spaltung zu erkennen zwischen Impfgegnern oder Kritikern der Corona-Politik und Menschen, die mehr oder minder murrend den Kurs mitgehen. Wie wollen Sie die Situation befrieden?
Braun: Es wäre schön, wenn wir Corona bald überwinden. Dann erübrigen sich viele Diskussionen. Das aktuelle Problem ist: Viele Ungeimpfte, die sich im Rahmen der 3G-Regel regelmäßig testen lassen müssen, interpretieren es so, als würde sie jemand bestrafen wollen, weil sie sich nicht impfen lassen. Aber das ist nicht der Fall. Es ist eine Notwendigkeit aus dem Infektionsgeschehen heraus. Wenn rund viermal so viele Erwachsene in Deutschland noch ungeimpft sind wie solche, die Corona schon durchgemacht haben, dann zeigt das, wie groß eine vierte Welle in diesem Herbst noch werden kann.
hessenschau.de: Was ist deswegen zu tun?
Braun: Wir müssen Infektionen verhindern. Wir wollen nicht, dass das Gesundheitswesen in Schwierigkeiten kommt. Dann müssten auch wieder viele Patienten auf OP-Termine warten, weil Betten belegt sind. Wir können die Normalität schnell zurückbekommen, wenn die Impfbereitschaft steigt. Wir haben inzwischen auch beim mRNA-Impfstoff Erfahrungen von vielen hundert Millionen Menschen und sehen: Der Impfstoff wirkt gut. Und die Nebenwirkungsraten sind sehr niedrig.
hessenschau.de: Das bedeutet?
Braun: Sich jetzt impfen zu lassen als Erwachsener, ist ein Beitrag für unsere Gesellschaft, unsere Freiheit und zum Beispiel den sicheren Schulbetrieb der Kinder. Jeder der es nicht tut, muss damit rechnen, dass er der Pandemie ausgesetzt ist und Tests sowie Kontaktbeschränkungen möglich bleiben. Aber nicht um Menschen zu ärgern, sondern um Infektionen einzudämmen.
hessenschau.de: Welche Möglichkeiten haben Sie, um mehr Druck aufzubauen? Gut zureden reicht nicht. Oder scheuen Sie mehr Druck, weil es Wählerstimmen kosten kann?
Braun: Ich sehe nicht, dass man weiteren Druck aufbauen kann, muss oder soll. Es gilt: Wer nicht geimpft ist, muss damit rechnen, dass er sich im Herbst und Winter als Zugangsvoraussetzung in vielen Bereichen testen lassen muss. Ab dem 11. Oktober müssen Tests selbst bezahlt werden. Und die Test-Notwendigkeit wird noch eine Weile bestehen.
hessenschau.de: Sie sind die rechte Hand der Kanzlerin, in Berlin viel beschäftigt. Was kommt von Ihrer Politik eigentlich noch in Ihrem Wahlkreis an?
Braun: Ich bin jedes Wochenende in Gießen und weise immer wieder darauf hin, wenn sich Fördermöglichkeiten bieten. Davon haben Gießen und die Region in den vergangenen Jahren profitiert. Sei es beim Denkmalschutz für die Sanierung der Schiffenberg Basilika oder die Stadtmauer in Alsfeld oder bei der Ansiedlung von Forschungsinstituten. In die Region sind zuletzt verschiedene Bundesmittel geflossen. Ich sehe meine Aufgabe darin, frühzeitig zu sagen: Achtung, das könnte für unsere Region interessant sein.
hessenschau.de: Zu Ihrer persönlichen Zukunft: Viele in der CDU wünschen sich eine personelle Neuaufstellung. Sind Sie ein Mann für die Nach-Merkel-Ära?
Braun: Ich bin der Spitzenkandidat der hessischen CDU. Und als solcher möchte ich auch im künftigen Team mitarbeiten.
hessenschau.de: Sie werden als Digitalminister gehandelt. Wäre das reizvoll als Querschnittsaufgabe, die viele Ressorts betrifft?
Braun: Wir wollen nicht vor der Wahl über Posten spekulieren. Wichtig ist, dass wir als CDU weiter gestalten können. Ich mache dann dort mit, wo ich im Team gebraucht werde.
hessenschau.de: Auch noch mal im Kanzleramt?
Braun: Die letzte Zeit war außergewöhnlich anstrengend, aber auch bereichernd. Ich habe früher als Notarzt auf der Intensivstation gearbeitet. Es ist auch eine Typ-Frage, dass man gern dort ist, wo Probleme gelöst werden müssen. Davor scheue ich mich nicht. Ich fand die letzten vier Jahre im Kanzleramt so interessant, weil man dort Allrounder sein muss.
hessenschau.de: Sehen Sie Ihre Zukunft dauerhaft in Berlin? Oder wäre die Nachfolge von Ministerpräsident Volker Bouffier nicht auch spannend?
Braun: Volker Bouffier ist ein erfolgreicher Ministerpräsident. Es ist nicht an der Zeit, über seine Nachfolge zu spekulieren.
Das Interview führten Wolfgang Türk und Jörn Perske.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 18.09.2021, 19.30 Uhr
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