Interview zur Bundestagswahl Grünen-Spitzenkandidat Nouripour: "Wir haben unnötige Fehler gemacht"
Er könnte das erste Bundestags-Direktmandat für die Grünen in Hessen holen: Spitzenkandidat Omid Nouripour spricht im Interview über die Lage in Afghanistan, den Weiterbau der A49 und Lastenräder.
Vor 15 Jahren rückte Omid Nouripour für den ehemaligen Außenminister Joschka Fischer in den Bundestag nach, jetzt will der 46-Jährige das erste hessische Direktmandat für seine Partei holen. Prognosen sehen den außenpolitischen Sprecher der Grünen in seinem Wahlkreis Frankfurt II derzeit vorne. Zusammen mit Bettina Hoffmann aus dem Schwalm-Eder-Kreis führt Nouripour außerdem die Grünen-Landesliste an.
Im Interview stärkt er Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock den Rücken und zeigt sich zuversichtlich, dass die Grünen ihre verspielte Führung wieder aufholen können. In Bezug auf Afghanistan macht er nicht nur der jetzigen Regierung Vorwürfe, sondern gesteht auch Fehler seiner eigenen Partei ein.
hessenschau.de: Mal ehrlich: Können Sie es schon fassen, dass die Grünen ihr Umfragehoch samt Führung verspielt haben und jetzt nur noch auf Platz drei hinter Union und SPD stehen?
Omid Nouripour: Wir haben unnötige Fehler gemacht. Im Tennis würde man sagen, unforced errors. Aber wir haben sie eingestellt und biegen jetzt auf die Zielgerade ab. Jetzt gilt's.
hessenschau.de: Wäre es mit Herrn Habeck als Kanzlerkandidat besser gelaufen?
Nouripour: Nein. Annalena Baerbock kann das. Ihre Auftritte sind überlaufen. Es gibt Wahlkampf-Veranstaltungen, zu denen 2.500 Leute kommen, so dass es mit den Corona-Auflagen schon schwierig wird. Wenn ich mir angucke, wie die Reaktionen auf das erste Fernsehtriell sind, dann muss ich sagen: Die Frau kann’s.
Viele Leute haben von unserem Wahlwerbespot einen Ohrwurm. Das ist doch der Sinn von Werbung.Zitat Ende
hessenschau.de: Einer Ihrer Wahlspots hat im Netz für Spott gesorgt. Darin wirbt Ihre Partei singend mit Heimatverbundenheit, Grillen, Handwerkstradition und Kirche. Wie bürgerlich dürfen die Grünen werden, um Wahlen zu gewinnen?
Nouripour: Ich höre dauernd, dass Leute davon einen Ohrwurm haben. Das ist ja der Sinn von Werbung. Mein Lieblingsmotiv ist gar nicht der Grill, von dem alle reden. Sondern da ist eine Bank, auf der sitzt Peter. Peter ist ein schwuler Pfarrer aus Groß-Gerau. Und neben ihm sitzt Rabeya, eine Imamin aus der Eifel, die als liberale Muslimin eine Gemeinde anführt, und sie singen zusammen. Ich finde das herrlich. Auch wenn ich den Song vielleicht nicht auf meine Playlist setzen würde.
hessenschau.de: Wegen der Afghanistan-Krise sind Sie im Bundestag und den Medien zurzeit als außenpolitischer Sprecher sehr gefragt. Wie viel Zeit bleibt Ihnen für den Wahlkampf in Ihrem Wahlkreis Frankfurt?
Nouripour: Ich mache vier, fünf Termine am Tag, und dazwischen versuche ich, mit den vielen Leuten, die ich in Afghanistan kenne, zu telefonieren. Deren Angst ist riesig und sehr nachvollziehbar.
hessenschau.de: Was ist momentan das Schlimmste? Sie haben der Bundesregierung ja völliges Versagen vorgeworfen.
Nouripour: Das Unerträglichste ist natürlich die Situation der Leute. Ich komme nicht darüber hinweg, dass sie vermeidbar gewesen wäre, zumindest für die Ortskräfte. Ich habe im Juni auf einer Veranstaltung ungefähr vorausgesagt, was jetzt passiert. Die letzten zwei Wochen waren in dieser Geschwindigkeit nicht absehbar. Aber der Trend war eindeutig.
Dass Außenminister Maas jetzt alles auf den Bundesnachrichtendienst schiebt, ist absurd. Ich habe das nicht vorhergesagt, weil ich den BND gefragt habe, sondern weil ich googeln kann. Und weil ich afghanische Zeitungen lesen kann. Dass die Bundesregierung bei dieser Katastrophe mit Ansage nur die Hände in den Schoß gelegt hat, als sie noch hätte handeln können, macht mich rasend.
hessenschau.de: Trifft die Grünen nicht schon deshalb eine Mitverantwortung, weil der Einsatz vor 20 Jahren unter einer rot-grünen Bundesregierung und dem grünen Außenminister Joschka Fischer begonnen wurde?
Nouripour: Ich kann nur daran erinnern, dass die Taliban die ganze Zeit an der Macht gewesen wären, wenn wir in diesen Auslandseinsatz nicht eingestiegen wären. Die 20 Jahre relativen Fortschritts und Friedens hätte es nicht gegeben. Trotzdem sind unglaublich viele Fehler passiert. Auch von Rot-Grün. Wir verlangen deshalb seit sehr langer Zeit, dass eine unabhängige Expertenkommission den Einsatz bewertet, damit man daraus Lehren ziehen kann. Das haben CDU und SPD aber immer verweigert.
hessenschau.de: Ist eine humanitäre Katastrophe jetzt überhaupt noch zu verhindern?
Nouripour: Es stehen einfach zu viele Leute auf Todeslisten der Taliban. Sie haben viele Lippenbekenntnisse abgegeben, wie moderat sie sein werden. Aber es spricht vieles dagegen. Sie zerstören Weltkulturerbe, die Geschlechtertrennung wird zunehmend vollzogen. Musik ist jetzt auch verboten worden. Es gibt erste UN-Berichte über Massenhinrichtungen.
Wenn Horst Seehofer sagt, es kommen bis zu fünf Millionen Leute, stelle ich die Frage: Wie denn?Zitat Ende
Oben drauf kommt noch die humanitäre Katastrophe. Das letzte Mal, als die Taliban regiert haben, gab es eine Hungersnot mit einer Million Toten. Da sagten die Taliban, das sei Gottes Wille. In Kabul leben normalerweise dreieinhalb Millionen Menschen. Durch den Vormarsch der Taliban sind viele in die Hauptstadt geflüchtet, es sind jetzt rund sechs Millionen Menschen dort. Wie ihre Versorgung im Winter gesichert werden kann, weiß niemand derzeit genau.
hessenschau.de: Nicht nur aus der AfD gibt es Warnungen vor einem - um mal die SPD zu zitieren - "drohenden Migrationsdruck". Worauf müssen wir uns einstellen?
Nouripour: Die Leute, die davor warnen, wollten drei Tage vor dem Fall von Kabul noch Menschen nach Afghanistan abschieben. Wenn Horst Seehofer sagt, es kommen bis zu fünf Millionen Leute, stelle ich die Frage: Wie denn? Die Nachbarstaaten haben die Grenzen militärisch abgeriegelt, der Kabuler Flughafen ist vorerst zerstört. Und in Pakistan, Iran und der Türkei ist die innenpolitische Lage so angespannt, dass diese Länder jetzt wohl kaum die Grenzen öffnen werden.
hessenschau.de: Sie treten in der Afghanistan-Krise als Gegenspieler von Heiko Maas auf. Wären Sie gerne Außenminister?
Nouripour: Ich wünsche mir, dass jemand Außenminister wird, der es kann. Das ist sicher nicht Heiko Maas. Auf diese hypothetische Frage kann ich nur so antworten: Ich wäre gerne Außenminister von Hessen. Nun schauen Sie sich um, wir sind eingeklemmt zwischen Söder und Laschet, als Hesse wartet da ein Job auf mich.
hessenschau.de: In Hessen regieren die Grünen fast geräuschlos mit. Selbst bei NSU 2.0 oder der A49 kommen kritische Töne nur aus der Bundestagsfraktion.
Nouripour: Ich habe meine Wiesbadener so verstanden, dass sie hinter verschlossener Tür an Lösungen arbeiten. Man muss sich auch die Geschichte dieses Landtags vor Augen führen, wo es jahrzehntelang die härtesten Debatten unter der Gürtellinie gab. Das ist jetzt nicht mehr so und das ist gut.
Ich darf im Bundestag sitzen. Das ist die Ehre meines Lebens.Zitat Ende
Dass wir als hessische Grüne die A49 nicht bauen wollten, und auch weiterhin nicht wollen, steht außer Frage. Genauso, dass jeder einzelne Rechtsextreme in der Polizei oder in der Bundeswehr einer zu viel ist, und dass man alles dafür tun muss, damit das aufhört. Die Frage ist, ob wir Lösungen liefern, und nicht, ob wir am Ende nur die Lautstärke hochdrehen.
hessenschau.de: Beim grünen Kernthema Klimaschutz ist Hessen weit von seinen Zielen entfernt. Bis 2030 werden wohl nur 43 statt der geplanten 55 Prozent CO2 eingespart. In Ihrem Wahlprogramm für den Bund fordern Sie sogar 70 Prozent. Ist das überhaupt noch realistisch?
Nouripour: Wir haben eine gläserne Decke beim gesamten Klimaschutz, das ist die Bundesgesetzgebung. Da ist die A49 ein klassisches Beispiel. So lange ein Andreas Scheuer Verkehrsminister ist und an seinen Projekten aus dem fossilen Zeitalter festhält, bekommen wir keine Verkehrswende hin. Natürlich hat das auch etwas mit dem Land Hessen zu tun. Aber die Emissionen, die Sie beschreiben, sind ja nicht nur allein durch das Land reduzierbar. Auch deswegen braucht es eine andere Politik in Berlin, damit der Landesregierung und den Kommunen beim Klimaschutz keine Steine mehr in den Weg gelegt werden.
hessenschau.de: Und Lastenfahrräder zu subventionieren ist ein Teil dieser anderen Politik?
Nouripour: Wir brauchen große Maßnahmen, aber auch viele kleine. Die Lastenräder sind ein Beispiel. Wir reden seit eineinhalb Jahren über die Verödung von Innenstädten. Gleichzeitig weiß ich als Frankfurter, wie die Hauptwache aussah, als sie noch nicht autofrei war. Jetzt sehen Sie da eine andere Lebensqualität. Wenn Innenstädte autofrei sind, brauchen die Lieferanten andere Möglichkeiten. Das passt alles zusammen. Im Übrigen gibt es für ganz große Lieferungen auch Elektro-Lastenfahrräder.
hessenschau.de: Sie treten zum vierten Mal im Wahlkreis Frankfurt II an. Bisher haben die Grünen in ganz Hessen noch kein Bundestags-Direktmandat geholt. Klappt es diesmal bei Ihnen?
Nouripour: In den Prognosen, die ich kenne, liege ich derzeit vorne. Die Chancen sind so gut wie noch nie, dieses historische Ergebnis zu erreichen. Emotional ist das sehr aufwühlend: Ich bin mit 13 nach Frankfurt gekommen, und diese Stadt gibt mir wie vielen anderen auch Chancen und Möglichkeiten, die nicht selbstverständlich sind. Ich darf sie im Bundestag vertreten. Das ist die Ehre meines Lebens. Und wenn ich jetzt auch noch das persönliche und direkte Vertrauen der Menschen in Frankfurt bekomme, dann verdrücke ich sicherlich die eine oder andere Freudenträne. Ich gebe jetzt erst mal alles dafür.
Das Interview führten Wolfgang Türk und Anja Engelke.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 14.09.2021, 19.30 Uhr
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