Bundestagswahlkampf der Linken in Wiesbaden Bei der Parole "Auf die Barrikaden" ist kein Halten mehr

Die Linkspartei hat auf einmal wieder Hoffnung - und mehr Zulauf im Bundestagswahlkampf als gedacht. In Wiesbaden wird für einen Auftritt von Co-Bundeschef van Aken, der hessischen Spitzenkandidatin Wissler und Partei-Legende Gysi ein deutlich größerer Saal gebraucht.

Hessens Linken-Spitzenkandidatin Janine Wissler (2.r.) applaudiert dem neben ihr sitzenden Gregor Gysi.
"Aus Fehlern gelernt": Linken-Spitzenkandidatin Janine Wissler (2.r.) applaudiert Gregor Gysi. Bild © hessenschau.de

Eine Wahlkampf-Matinee hatte es mal sein sollen, in einer Wiesbadener Location mit Platz für allenfalls 140 Besucherinnen und Besucher. Das hätte reichen sollen für eine Partei, die stark angezählt war und kurz vor dem K.o. schien - auch wenn die Plakate als Promis die Partei-Legende Gregor Gysi und die Ex-Bundesvorsitzende Janine Wissler ankündigten.

Doch kurz vor der Bundestagswahl hat Empörung über den auch mit Hilfe der AfD verabschiedeten Asyl-Entschließungsantrag von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz der Linkspartei offenbar nicht nur in Umfragen einen zählbaren Schub verpasst.

Und so zog die Linke am Sonntag kurzfristig in die Kurhaus-Kolonnaden um, wo am Ende immer noch eine gute Hundertschaft Interessierter draußen bleiben musste. Drinnen jubelten gut 500 Menschen immer wieder auf. Viele dürften zwischen 20 und 30 Jahre alt gewesen sein. Einmal wurden gerade sie besonders laut. Als die Parole "Auf die Barrikaden!" fiel, war kein Halten mehr.

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Gysi und Wissler in Wiesbaden - Linken-Wahlkampf in Hessen

Gregor Gysi am Rednerpult
Bild © hr
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Laune hat sich verbessert

Zu aktueller Popularität unter den Anhängern einer linken Politik hat die Co-Bundesvorsitzende Heidi Reichinnek diesem Aufruf nach der turbulenten Asyl-Abstimmung vor eineinhalb Wochen in Berlin verholfen. Der neue Social-Media-Star ihrer Partei war lediglich per Plakat auf der Bühnenwand präsent - und eben per Barrikaden-Zitat, mit dem Jan van Aken seine Rede abschloss.

Der Auftritt des 63 Jahre alten Co-Parteichefs in Wiesbaden war offenkundig auch erst beschlossen worden, nachdem die Plakate für die Veranstaltung gedruckt waren. "Ich hab' im Moment extra gute Laune", posaunte van Aken hinaus.

Auch ohne Silberlocken-Hilfe im Parlament

Als der Landesverband vor Weihnachten in Butzbach (Wetterau) seine Kandidatenliste aufstellte, leistete van Aken in seiner Rede noch Mutmacher-Arbeit - die Mitgliederzahlen stiegen zwar an, vor allem junge Leute kamen hinzu. Aber die Umfragen waren noch im Keller.

Der Einzug in den Bundestag schien einzig durch ein Hintertürchen und mithilfe von drei gewonnenen Direktmandaten möglich. Ein Männertrio, zu dem Gysi zählt, soll das in der Aktion "Silberlocke" schaffen.

Gewählt werden muss erst noch in zwei Wochen. Aber van Aken gab sich nun in Wiesbaden sicher: "Wir sind drüber!" Umfragen sehen die Linke plötzlich über der Fünf-Prozent-Hürde, die lange kaum erreichbar schien.

Programmpunkt auf dem Shirt

Mit der weißen Aufschrift "Tax the rich" auf einem schwarzen Shirt mit hochgekrempelten Ärmeln warb der Linkenpoliitker in Wiesbaden für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. In seinem Plädoyer für eine "antifaschistische Wirtschaftspolitik" zählte er neben einem bundesweiten Mietendeckel unter anderem den Wegfall der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel als wesentliche Punkte seiner Partei auf.

Auch Janine Wissler, hessische Spitzenkandidatin und langjährige Vorsitzende der Linksfraktion im Hessischen Landtag, umriss das komplette Programm. Schwerpunkt ist vor allem die Sozialpolitik mit Mindestlohn und Mindestrente zum Beispiel.

Nach einer Reihe von Wahlniederlagen, dem Ausscheiden auch der hessischen Linken aus dem Länderparlament und langem innerparteilichen Streit hatte die 43 Jahre alte Frankfurterin als Bundesvorsitzende im Herbst aufgegeben. Sie trat nicht mehr an. Nun befand sie: Es mache Spaß, Wahlkampf zu machen.

Menschen verfolgen eine Linken-Veranstaltung auf dem Boden sitzend.
Wahlkampf aus der Bodenperspektive: Bei der Linken-Veranstaltung in Wiesbaden wurden Sitzplätze knapp Bild © hessenschau.de

Wissler: Zu viele AfD-Doppelgänger

Der Konkurrenz im Bundestag warf Wissler vor, einen "AfD-Lookalike-Wettbewerb" in der Asylpolitik gestartet zu haben. "Diesen Wettbewerb der Schäbigkeit kann man nicht gewinnen", sagte sie. Migranten würden zu Sündenböcken. Die Linke wolle keine Abschiebehaftplätze, sondern Wohnungsbau.

Als letzter der drei Partei-Prominenten und mit der deutlich längsten Redezeit stieg der 77-jährige Gysi im Kurhaus in den Wahlkampfring. Es wurde eine Grundsatzrede: Mal im Ton des plaudernden Conférenciers, mal in dem des statistik-sicheren Dozenten spannte er einen weiten Bogen: vom Nahost-Konflikt über die Besteuerung von Unternehmensgewinnen bis zur Lage der eigenen Partei.

Gysi: Zu viel Selbstbeschäftigung

Dass die Linke gerade wieder im Aufwind ist, verdankt sie nach Meinung Gysis nicht zuletzt einer selbstkritischen Aufarbeitung ihrer Fehler. "Wir waren zu viel mit unseren Problemen beschäftigt, nicht mit denen der Leute. Das merken die", sagte Gysi. Um die AfD zu bremsen, brauchten auch andere Parteien diese Selbstreflektion.

Bei der Gelegenheit holte er zu einem schadenfrohen Seitenhieb auf eine umstrittene Ex-Parteikollegin aus. "Im Übrigen streitet sich im Moment ein Bündnis auch ganz erheblich", sagte er.  Gemeint war das "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW) . Es liegt nach Anfangserfolgen derzeit in Umfragen hinter der Linken und hat mit innerparteilichen Kämpfen zu tun.

Bei Zukunftsthemen wie dem Klimawandel wandte sich Gysi den jungen Menschen im Saal zu, von denen viele links von ihm vor der Bühne auf dem Boden saßen. Mehr als einmal kokettierte er mit seinem Alter. Ernst wurde er, als er mahnte: Es sei höchste Zeit, Freiheit und Demokratie zu verteidigen. "Wenn wir sie los sind, bekommen wir sie so schnell nicht wieder", fügte er hinzu.

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de