Interview zur Bundestagswahl SPD-Spitzenkandidat Roth: "Deutschland steht vor einem echten Abenteuer"
Der Spitzenkandidat der hessischen SPD zur Bundestagswahl, Michael Roth, über überraschend gute Umfragewerte, das Afghanistan-Debakel für seinen Chef und das entscheidende Element beim Klimaschutz.
Seit 23 Jahren sitzt Michael Roth aus Heringen (Hersfeld-Rotenburg) für die SPD im Bundestag. Bei der anstehenden Bundestagswahl will der 51-Jährige zum siebten Mal nacheinander das Direktmandat in seinem Wahlkreis gewinnen. Die Chancen stehen gut.
Dass die Chancen der SPD, nach 16 Jahren wieder den Bundeskanzler zu stellen, ausweislich der jüngsten Umfragen ebenfalls gut stehen, macht dem Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt gute Laune. Daraus, mit wem er sich einen Neuanfang für Deutschland am ehesten vorstellen kann, machte er beim Interview in der Wähl-Bar des Hessischen Rundfunks im früheren Schlachthof Gießen keinen Hehl.
hessenschau.de: Herr Roth, auf Twitter haben Sie ein Video des Schlagers "Wunder gibt es immer wieder" verbreitet. Sie sind wohl über die guten Umfragewerte der SPD ebenso erstaunt wie viele Beobachter.
Michael Roth: Dass die SPD drei Wochen vor der Bundestagswahl in Umfragen vor der Union liegt, war ja lange Zeit nicht unbedingt zu erwarten. Ich war immer zuversichtlich, aber es freut einen dann doch sehr, wenn man sieht: Letztlich zahlen sich die gute Regierungsarbeit der vergangenen Jahre, ein überzeugendes Wahlprogramm und vor allem ein kompetenter Kanzlerkandidat aus.
hessenschau.de: Können Sie mit Umfragewerten von knapp über 20 Prozent wirklich zufrieden sein?
Roth: Wenn man über viele Monate hinweg wie einzementiert bei um die 15 Prozent lag, sind Umfragewerte von über 20 Prozent schon erfreulich. Aber ja, unsere Parteienlandschaft ändert sich gewaltig. Künftig werden vermutlich nicht mehr zwei Parteien eine Koalition bilden können, sondern wir brauchen drei Partner. Das ist für das stabilitätsorientierte Deutschland ein echtes Abenteuer.
Die SPD steht für eine Kultur des Respekts.Zitat Ende
hessenschau.de: Ihr Kanzlerkandidat Olaf Scholz orientiert sich im Wahlkampf am Erfolgsrezept Angela Merkels - nach dem Motto "Sie kennen mich". Zu Inhalten sagt er nicht viel. Sagen Sie uns bitte in drei Sätzen, wofür die SPD im Jahr 2021 steht?
Roth: Wie bitte? Da haben Sie Olaf Scholz aber nicht zugehört. Die SPD steht für eine Kultur des Respekts. Wir treten ein für gute Arbeit, stabile Renten, bezahlbaren Wohnraum und starke Familien. Wir werben für einen sozial gerechten Klimaschutz, der Arbeitsplätze sichert und auch den ländlichen Raum mitdenkt. Und wir wollen Europa stark machen, um die Globalisierung nachhaltig und sozial zu gestalten.
hessenschau.de: Überwiegt derzeit die Freude über die guten Umfragewerte oder der Kummer über die Bilanz Ihres Chefs Heiko Maas? Der Außenminister wird für das Debakel in Afghanistan verantwortlich gemacht.
Roth: Hier ist ja nicht nur ein Land, eine Regierung und erst recht nicht nur ein Minister gescheitert, sondern die gesamte internationale Gemeinschaft, die sich über 20 Jahre in Afghanistan engagiert hat. Jetzt geht es darum, unter schwierigsten Bedingungen deutsche Landsleute, ehemalige afghanische Ortskräfte und akut von den Taliban bedrohte Menschen rasch und sicher herauszuholen. Die schlimme Lage in Afghanistan macht mir sehr zu schaffen.
hessenschau.de: "Der Migrationsdruck auf die EU und Deutschland wird zunehmen", sagten Sie über Afghanistan. Verhelfen Sie damit nicht der AfD zu einem Wahlkampfthema?
Roth: Ich bin tief beeindruckt, dass es in unserem Land bei ganz vielen eine große Bereitschaft gibt, Menschen in allergrößter Not aufzunehmen. Die allermeisten afghanischen Geflüchteten halten sich in den Nachbarländern wie Pakistan und Iran auf, die müssen wir vor Ort bestmöglich unterstützen. Aber sicher dürften wir in der EU mit einer größeren Zahl von Geflüchteten zu rechnen haben. Das wird uns aber nicht überfordern.
hessenschau.de: Über die Aufnahme von Flüchtlingen waren sich die EU-Staaten zuletzt selten einig.
Roth: Es ist bitter, dass die EU bisher noch keine zukunftsfähige Flüchtlings- und Migrationspolitik gefunden hat. Dabei ist es wichtig, dass wir alle füreinander eintreten. Da wäre eine solidarische Verteilung von Geflüchteten zwingend geboten. Das fordert die SPD schon lange. Die EU muss zu ihren Werten stehen.
Deutschland profitiert als Exportnation am meisten davon, wenn sich andere Länder in der EU rasch von den Folgen der Pandemie erholen.Zitat Ende
hessenschau.de: Als Europa-Staatsminister arbeiteten Sie am Corona-Wiederaufbaufonds mit 750 Milliarden Euro mit. Dafür nimmt die EU-Kommission gemeinschaftlich Schulden auf. Für Sie ein wichtiger Schritt in Richtung Fiskalunion - CDU und CSU wollen davon nichts wissen.
Roth: Darüber streite ich gerne mit CDU und CSU. Es liegt im ureigenen Interesse Deutschlands, dass auch andere Länder in Europa möglichst rasch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie überwinden. Unser Wohlstand und unsere Arbeitsplätze hängen massiv davon ab, wie es unseren Partnern in Europa geht. Die Schere zwischen armen und reichen Regionen darf nicht noch größer werden. Deshalb brauchen wir soziale und steuerliche Mindeststandards sowie eine bessere wirtschaftliche Koordinierung in der EU.
hessenschau.de: Soll Deutschland Schulden von Italien oder Spanien zurückzahlen?
Roth: Diese Staaten haben auch in den vergangenen Jahren selbst ihre Schulden zurückgezahlt. Es geht nicht darum, dass wir fremde Schulden übernehmen. Wenn wir als EU etwas gemeinsam auf den Weg bringen, leisten wir schon jetzt gemessen an unserer Bevölkerungsgröße einen etwa 25-prozentigen Anteil. Aber noch mal: Es ist gut investiertes Geld. Solidarität macht alle stark!
hessenschau.de: In ihrem Wahlprogramm schreibt die SPD, sie wolle die Erderwärmung auf "möglichst 1,5 Grad" begrenzen. Angesichts des fortschreitenden Klimawandels, dessen Folgen sich diesen Sommer auch in Deutschland zeigten: Ist das ambitioniert genug?
Roth: Wir haben ein realistisches und zugleich ambitioniertes Klimaschutzpaket auf den Weg gebracht. Wir brauchen deutlich mehr Windkraftanlagen, mehr Stromleitungen. Schwarz-Grün hat in Hessen in diesem Jahr gerade mal neun neue Windräder genehmigt - das ist doch ein Witz! Um die Klimaschutzziele so schnell wie möglich zu erreichen, setze ich auch auf Innovationen und neue Technologien. Wer weiß heute schon, was in zehn Jahren möglich sein wird.
Vor allem muss es auch beim Klimaschutz sozial gerecht zugehen. Wir dürfen Menschen, die sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen, nicht alleine lassen. Klimaschutz braucht eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung.
hessenschau.de: Die SPD war seit Ende der 1990er Jahre nur vier Jahre lang nicht in Regierungsverantwortung im Bund. Warum sollte Klimaschutz jetzt plötzlich schneller gehen mit ihr?
Roth: Weil wir alle dazu gelernt haben. Vor zehn Jahren war das Thema noch nicht so weit oben auf der politischen Agenda. Im Grundsatz stimmen heute ja alle Parteien - mit Ausnahme von Populisten und Nationalisten - über die Ziele überein. Wir müssen zeigen, dass ambitionierter Klimaschutz, Wohlstand für viele, wirtschaftliche Stärke und sozialer Ausgleich zusammenpassen. Wir sind das einzige Land weltweit, das gleichzeitig aus der Atom- und Kohleenergie aussteigt und bis spätestens 2040 vollständig auf erneuerbare Energien umsteigen will. Das ist eine Menge Holz.
hessenschau.de: Eine Möglichkeit, die Menschen beim Klimaschutz mitzunehmen, ist, Gemeinden an Erträgen aus Windkraft zu beteiligen und Mieter an Einkünften aus Solarstrom von den Dächern ihrer Häuser. Einen Antrag der Grünen für diesen sogenannten Mieterstrom hat die SPD im Bundestag aber gerade abgelehnt.
Roth: Es ist doch klar, dass wir uns in einer bestehenden Koalition an Verabredungen halten: Wenn der eine Koalitionspartner etwas partout nicht will, sucht der andere nicht wechselnde Mehrheiten. Nur so können wir stabil und verantwortungsbewusst regieren. Das macht Schwarz-Grün in Hessen übrigens genauso. Das hat uns beispielsweise davor bewahrt, dass die CDU/CSU gegen den Mindestlohn oder die Grundrente gestimmt hat. Und manchmal müssen wir eben auch gegen Vorschläge der Opposition stimmen, die wir eigentlich für richtig halten.
Deswegen muss ja jetzt auch Schluss sein mit der Großen Koalition. Wir brauchen neue, progressive Mehrheiten. Da kann ich mir eine Menge mit den Grünen vorstellen.
Wir gehen raus aus der Atomkraft, raus aus der Kohleverbrennung, rein in 100 Prozent erneuerbare Energien. Das ist eine Menge Holz.Zitat Ende
hessenschau.de: Das heißt, für Verhandlungen zum Beispiel über eine Deutschland-Koalition aus CDU/CSU, SPD und FDP stünden Sie nicht bereit?
Roth: Ich habe deutlich gemacht, wofür ich stehe. CDU/CSU sollten unbedingt in die Opposition. Wir arbeiten an neuen Mehrheiten, aber wir führen jetzt keine Koalitionsdebatten. Ich werbe für ein starkes SPD-Ergebnis und einen Kanzler Olaf Scholz.
hessenschau.de: Blicken wir auf Ihren eigenen Wahlkreis. Dort sprechen sich viele Bürgermeister und auch Sie für einen Ausbau des bestehenden ICE-Halts in Bad Hersfeld aus. Bei der Bahn scheint man aber einen Bahnhof auf der grünen Wiese, in Ludwigsau, zu favorisieren. Wie wollen Sie das verhindern?
Roth: Die Bahn ist gesetzlich dazu verpflichtet, alle möglichen Varianten sorgfältig zu prüfen, und diesem Auftrag kommt sie nach. Ich habe mich mit Erfolg für ein Dialogforum eingesetzt, in dem Vertreterinnen und Vertreter der Region gleichberechtigt vertreten sind. Ob Kommunalpolitik, Bürgerinitiativen, Naturschutz- oder Wirtschaftsverbände - alle sitzen mit am Tisch.
Am Ende muss das Forum einen Vorschlag für einen Trassenverlauf und ICE-Halt machen. Ich trete für einen Fernverkehrshalt in Bad Hersfeld ein, mit einem Einstundentakt, das wäre ein Riesenfortschritt für unsere Region.
hessenschau.de: Dann läge Bad Hersfeld nur noch eine Stunde mit dem ICE von Frankfurt entfernt und würde vielleicht auch für Berufspendler dorthin interessant - Stichwort bezahlbare Mieten.
Roth: Der ländliche Raum hat in den vergangenen Jahren deutlich an Attraktivität gewonnen. Auch in meinem Wahlkreis bauen sich immer mehr junge Familie eine Zukunft auf. Das hat auch mit bezahlbaren Mieten und der Infrastruktur zu tun. Wir brauchen ein faires Miteinander von Stadt und Land. Die Hälfte der Hessinnen und Hessen lebt im ländlichen Raum. Sie dürfen bei Mobilität, Gesundheitsversorgung und Bildung nicht das Nachsehen haben.
hessenschau.de: Wenn die SPD mitregieren sollte: Heißt der Außenminister dann Michael Roth?
Roth: Ob Sie's glauben oder nicht, darüber mache ich mir überhaupt keine Gedanken. Jetzt sorgen wir erst einmal für ein super Wahlergebnis, dazu will ich meinen Teil beitragen.
Das Interview führten Anja Engelke und Stephan Loichinger.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 17.09.2021, 19.30 Uhr
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