Wahl am Sonntag 8 Fakten zur Europawahl
Am Sonntag werden die neuen Abgeordneten des Europaparlaments gewählt. Für alle, die sich kurzfristig noch einen Überblick verschaffen möchten, kommt hier unser Wahlwissen to go.
Seit 8 Uhr morgens sind auch in Hessen die Wahllokale geöffnet. Hessenweit sind rund Hessen 4,85 Millionen Menschen aufgerufen, ihre Stimmen für das neue Europäische Parlament abzugeben, das alle fünf Jahre gewählt wird.
2019 waren 13 Parteien aus Deutschland mit einem oder mehreren Vertretern ins Parlament gezogen. Aus Hessen sitzen derzeit noch sechs Abgeordnete in Brüssel und Straßburg, wo das EU-Parlament abwechselnd tagt. Insgesamt wird Deutschland auch dieses Mal wieder 96 Abgeordnete entsenden.
Davon abgesehen ist allerdings manches anders bei dieser Wahl, und nicht alle Klischees, die viele Menschen über Europa im Kopf haben, stimmen.
1. Was dieses Mal neu ist:
Die Europawahl wird jünger. Jedenfalls in Deutschland. Erstmals dürfen hier auch die 16- und 17-Jährigen an einer Europawahl teilnehmen. In Hessen sind sie rund 100.000 und machen damit rund zwei Prozent der Wahlberechtigten aus. Das Wahlrecht ab 16 Jahren gilt außer in Deutschland nur in Österreich, Malta und Belgien. In Griechenland darf ab 17 Jahren gewählt werden.
2. Was es womöglich zum letzten Mal gibt:
Zurzeit gilt bei Europawahlen in Deutschland keine Sperrklausel. Für die Besetzung der 96 deutschen Sitze im Parlament ist also nicht relevant, ob eine Partei mehr als fünf Prozent erreicht. Auch viele kleine Parteien haben somit die Chance, ins EU-Parlament zu ziehen.
Das könnte in diesem Jahr zum letzten Mal so sein. Denn ab der nächsten Wahl, die 2029 ansteht, soll es wieder eine Sperrklausel geben, die wohl irgendwo zwischen zwei und fünf Prozent liegen wird. Damit setzt Deutschland eine Vorgabe der EU um.
Übrigens: Bis 2009 galt in Deutschland bereits eine Sperrklausel bei Europawahlen. Doch das Bundesverfassungsgericht kippte sie. Die Marburger Politikwissenschaftlerin Julia Schulte-Cloos erklärt, damals seien die Richter von anderen Voraussetzungen im EU-Parlament als im Bundestag ausgegangen. Im Bundestag sei eine stabile Mehrheit für die Bildung einer handlungsfähigen Regierung wichtig. Das sei im EU-Parlament nicht der Fall.
3. Wo es kurz vor der Wahl krachte:
Hoch her geht es gerade in der Rechtsaußen-Fraktion Identität und Demokratie (ID). In dieser haben sich Rechtspopulisten aus Frankreich, Italien, Österreich und weiteren Ländern zusammengeschlossen, auch die AfD zählte bis vor Kurzem dazu. Doch die anderen Fraktionsmitglieder kündigten die Zusammenarbeit mit den neun AfD-Mitgliedern kurz vor der Wahl auf.
Das liegt insbesondere am Spitzenkandidaten Maximilian Krah. Ihm werden enge Kontakte zu Russland und China vorgeworfen, außerdem soll einer seiner Mitarbeiter für China spioniert haben. Krah äußerte sich außerdem verharmlosend über die SS. Was der AfD-Ausschluss für die Zeit nach der Europawahl bedeuten wird, ist allerdings offen. Mit den Europäischen Konservativen und Reformern gibt es im rechten Spektrum jedenfalls eine weitere Fraktion.
4. Wieso auch die Bundesregierung über Europapolitik entscheidet:
Zwar ist das EU-Parlament das Gremium, das alle fünf Jahre von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt wird. Doch die über 700 Abgeordneten entscheiden nicht alleine über die Richtlinien und Verordnungen, die sich letztlich auf den Alltag der EU-Bürgerinnen und -Bürger auswirken. An den Entscheidungen ist ebenso der Rat der Europäischen Union beteiligt, in dem die Bundesregierung vertreten ist.
Je nach Themenbereich kommen die zuständigen Minister der EU-Mitgliedsländer zusammen, um über die Gesetzesvorschläge zu beraten, sie zu ändern oder anzunehmen. Bei den meisten Themenfeldern sind Parlament und Rat gleichberechtigt für die Rechtsvorschriften zuständig. Deshalb ist für die Gesetzgebung in Brüssel und Straßburg auch relevant, wie die Bundestagswahl ausgeht.
5. Was an der Wahl umstritten ist:
Gesetze vorschlagen kann das Europäische Parlament nicht - anders als Landtag oder Bundestag. Dies ist Aufgabe der EU-Kommission, bestehend aus Präsidentin Ursula von der Leyen und einem Kommissar oder einer Kommissarin für jedes Mitgliedsland.
Nach der Wahl des EU-Parlaments stimmen die neuen Abgeordneten über den Kommissionspräsidenten oder die -präsidentin ab. Von der Leyen hat offenbar gute Chancen auf eine zweite Amtszeit. Sie ist die Kandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP) für das Amt.
Dass sich die Parteien vorher auf Spitzenkandidaten festlegen, ist allerdings umstritten. Denn für die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs, wen sie für das Amt vorschlagen, ist die Spitzenkandidatur nicht bindend. 2019, als von der Leyen Kommissionspräsidentin wurde, hieß der Spitzenkandidat der EVP eigentlich Manfred Weber (CSU). Und auch dieses Mal steht ihr Name auf keinem Stimmzettel, denn Abgeordnete möchte von der Leyen gar nicht werden.
6. Wo es inhaltlich besonders hoch her geht:
Als Aushängeschild der aktuellen Legislatur von Kommissionspräsidentin von der Leyen gilt der sogenannte Green Deal, der Klimaschutzpakt der EU. Bis 2050 haben die EU-Länder sich zur Klimaneutralität verpflichtet, bis 2030 sollen die CO2-Emissionen um 55 Prozent sinken. Unterstützung für von der Leyens Politik gab es bislang von den pro-europäischen Parteien: Christ- und Sozialdemokraten, Grüne und Liberale in Europa trugen den Green Deal grundsätzlich mit.
Doch im Wahlkampf deutete sich bereits ein Bruch mit der bisherigen Klimapolitik an: Die Europäische Volkspartei, zu der von der Leyens CDU zählt, blockierte im EU-Parlament zuletzt etwa Vorgaben für weniger Pestizide in der Landwirtschaft. Spannend wird außerdem, wie die anderen Parteien künftig zusammenarbeiten, wenn die Rechtspopulisten wie erwartet in vielen Ländern stärker abschneiden und zusätzliche Sitze gewinnen.
Ein weiteres Thema, das noch nach der Wahl eine Rolle spielen wird, ist die Asylpolitik. Hier hatten sich EU-Parlament, Rat der Europäischen Union und Kommission nach jahrelangem Ringen geeinigt: Asylsuchende mit schlechter Bleiberechtsperspektive sollen an den EU-Außengrenzen Schnellverfahren durchlaufen, Abschiebungen in sichere Herkunfts- und Transitländer sollen auch ohne Antragsprüfung möglich sein. Die Umsetzung fällt nun in die kommende Legislaturperiode.
7. Was am Vorwurf der "Regulierungswut" dran ist:
Die Geschichte von der gekrümmten Gurke kennt wohl jeder, dabei ist die entsprechende Verordnung schon seit 2009 passé. Bis dahin galt für den Handel, dass Gurken nur maximal zehn Millimeter gekrümmt sein durften, damit sie in der höchsten Güteklasse verkauft werden konnten.
Doch wie stark reguliert die EU unseren Alltag? Dazu zunächst die nackte Zahl: Rund 6.500 EU-Verordnungen, Richtlinien und Verträge sind aktuell in Kraft. 2014 waren es noch rund 4.600, wie aus dem Rechtsinformationssystem der Europäischen Union hervorgeht.
Es werden also immer mehr Vorschriften. Doch das gilt nicht nur für die europäische Ebene, sondern auch für den Bundestag, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD hervorgeht. Der Grund: Unser Leben wird immer komplizierter, zuletzt sind neue Bereiche wie etwa Digitalvorschriften oder der Umgang mit dem Klimawandel hinzugekommen.
In die einzelnen Lebensbereiche greift die EU dabei unterschiedlich stark ein. Es gilt das Prinzip der Subsidiarität: Wo nationale Regierungen tätig werden können, darf die EU nur eingreifen, wenn sie ein Problem wirksamer lösen kann. Es gibt Bereiche wie den Binnenmarkt, die Währungspolitik im Euroraum oder internationale Handelsabkommen, die vollständig in die Zuständigkeit der EU fallen. Laut dem Amt für Veröffentlichungen der EU betrifft etwa die Hälfte der aktuell gültigen Rechtsvorschriften die Außenpolitik, etwa Handelsbeziehungen oder die Zusammenarbeit mit Drittstaaten bei Themen wie dem Klimaschutz.
In anderen Bereichen wie Bildung und Tourismus hat die EU hingegen nichts zu sagen. Und es gibt Bereiche, in denen sich die Zuständigkeit nicht so klar trennen lässt. Laut einer Studie der Fernuni Hagen kam in der Landwirtschaft zeitweise mehr als 80 Prozent der Gesetzgebung aus Brüssel - wobei die Zahl der Rechtsvorschriften seit 2014 gesunken ist. Auch in der Umwelt- und Verkehrspolitik ist der Einfluss der EU der Studie zufolge hoch. In den meisten anderen Bereichen liegt der Einfluss der EU demnach aber weit unter 50 Prozent.
8. Wieso wir zwar "Zahlmeister" sind, aber trotzdem von der EU profitieren:
237 Euro pro Jahr und Kopf zahlte Deutschland im Jahr 2022 laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) an die EU. Mit 19,7 Milliarden Euro netto sind die Zahlungen so hoch wie in keinem anderen Land. Doch wer daraus ableite, dass die EU Deutschland mehr schaden als nutzen würde, habe zu kurz gedacht, erklärt Berthold Busch, Senior Economist für Europäische Integration am IW. "Man darf den Nutzen der EU nicht auf die finanziellen Zuwendungen an die EU begrenzen."
Busch sieht etwa "erhebliche positive Effekte" durch den Binnenmarkt, der den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr ermöglicht. Als Exportnation profitiere Deutschland davon besonders stark: 55 Prozent der Exporte im Jahr 2023 erfolgten in Mitgliedsländer der EU, 40 Prozent blieben innerhalb des Euroraums. Aus Hessen gingen sogar drei von vier Exporten in die EU.
Wie negativ sich ein EU-Austritt auswirken würde, zeigt zudem der Blick nach Großbritannien: Vor dem Brexit war das Land zweitgrößter Nettozahler der EU. Die Wirtschaftsleistung ist seitdem um sechs Prozent gesunken, bis 2035 könnten es laut einer Studie zehn Prozent werden.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 09.06.2024, 19.30 Uhr
Redaktion: Anja Engelke