Europawahl am 9. Juni 2024 Drei Beispiele, was EU-Politik in Hessen bewirkt
Brüssel ist weit weg und EU-Politik abstrakt - das sind gängige Vorurteile. Dabei sind viele Entscheidungen, die das Europaparlament trifft, in Hessen spürbar. Das betrifft sogar die Luft, die wir atmen. Drei Beispiele vor der Europawahl.
Wenn die Luft in der Darmstädter Hügelstraße zum Schneiden dick ist, oder Abgase sich an der Schiede in Limburg stauen, dann kann das krank machen. Wem das passiert, der soll in Zukunft eine Entschädigung fordern können - und das ist eine Folge von EU-Politik.
Entscheidungen aus Brüssel scheinen im Alltag oft weit weg. Viele Hessen haben vielleicht auch deshalb bei den vergangenen Europawahlen gar nicht erst abgestimmt: Die Wahlbeteiligung lag deutlich niedriger, als bei Bundestags- oder Landtagswahlen. Dabei beeinflussen Entscheidungen des Europäischen Parlaments auch das Leben in Hessen direkt.
Wir zeigen an drei Beispielen, wie solche Entscheidungen zustande kommen und was sie in Hessen bewirken. Es geht um:
1. Strengere Messungen für saubere Luft
Was hat die EU also in der Darmstädter Hügelstraße zu sagen? Die Antwort ging Ende Februar durch die Presse: Da einigte sich die EU auf schärfere Grenzwerte für Luftverschmutzung. Diese Werte schreiben vor, wie viel Feinstaub und Stickstoffdioxid (NO2) in der Luft sein darf - und sind in einer EU-Richtlinie geregelt.
Die Darmstädter Hügelstraße oder die Limburger Schiede sind Orte mit vergleichsweise schlechter Luft in Hessen. Nach einer Klage der Deutschen Umwelthilfe waren dort in den vergangenen Jahren strenge Maßnahmen nötig, um die Luftqualität zu verbessern und die Grenzwerte einzuhalten. Schraubt die EU nun an den Grenzwerten, wird sich in vielen hessischen Städten noch mehr verändern müssen.
Den Grund für die Verschärfung der Grenzwerte lieferten Gesundheitsexperten: Für ein gesundes Leben müsste die Luft in Europas Städten noch deutlich besser werden, mahnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit Jahren. Die Grenzwerte für Schadstoffe müssten strenger sein. Darauf hat die EU reagiert.
Wie die EU entschieden hat: Beispiel Luftqualität
Die Geschichte der neuen Schadstoff-Grenzwerte beginnt schon im Jahr 2022. Da schlug die EU-Kommission vor, die 20 Jahre alte Luftqualitätsrichtlinie zu überarbeiten. Solch ein Vorschlag der Kommission ist der erste Schritt in der EU-Gesetzgebung. Dann wird verhandelt.
Den Kommissionsvorschlag prüfen der Europäische Rat und das Europaparlament. Dabei kann das Parlament Änderungen vorschlagen - so wie beim Thema Luftqualität: Hier forderte es zum Beispiel noch mehr Messstationen in Städten für aussagekräftigere Messungen.
Sind Parlament und Rat sich einig, sieht es gut aus für das neue Gesetz. Im Plenum des Europaparlaments wird dann abgestimmt: Den neuen Grenzwerten gegen Luftverschmutzung stimmte das Europaparlament Ende April 2024 zu. Zum Schluss müssen die EU-Staaten den neuen Regeln zustimmen. Das galt im Fall der neuen Schadstoff-Grenzwerte als Formsache.
Was das für Hessen bedeutet
Noch halten in Hessen fast alle Orte, an denen die Luftqualität gemessen wird, die vorgeschriebenen Grenzwerte ein. Doch sobald die neuen, strengeren Werte greifen, könnten viele Orte die Obergrenze wieder reißen.
In Limburg an der Schiede wurden 2023 zum Beispiel 37 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft gemessen - fast doppelt so viel wie künftig erlaubt. Außerdem 18 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter - ebenfalls fast das Doppelte vom künftigen Grenzwert.
Mehr als die Hälfte der hessischen Messstellen kann derzeit nicht mit den neuen Grenzwerten mithalten. Betroffene Städte mit besonders belasteten Straßen werden sich bis 2030 noch mehr um saubere Luft bemühen müssen.
2. EU-Naturschutz in Hessen
Nicht immer passen EU-Politik und Landespolitik reibungslos zusammen. Das zeigt unser zweites Beispiel: EU-Naturschutzgebiete. Wer schon einmal durch den nordhessischen Kellerwald oder den Reinhardswald spaziert ist, hat das heikle Terrain betreten, um das es hier geht.
Denn beide Wälder sind Teil eines EU-weiten Netzes aus Naturschutzgebieten, genannt "Natura 2000". Insgesamt 637 solcher Gebiete sind in Hessen ausgewiesen - und genau dazu hatten zwei hessische Landesregierungen zuletzt zwei verschiedene Meinungen.
Die hessischen Grünen wollten - als sie noch an der Regierung beteiligt waren - das Netz ausweiten, viele neue Flächen als Naturschutzgebiete ausweisen und somit den Schutzrichtlinien der EU unterstellen. Das CDU-geführte Landwirtschaftsministerium will das nicht und hat die Ausweisung gestoppt.
Viele Naturwälder in Nord- und Südhessen seien davon betroffen, sagte der Naturschutzbund (NABU) dem hr Anfang des Jahres: Etwa Teile des Reinhardswalds im Kreis Kassel sowie Gebiete im Schwalm-Eder-Kreis, in der Rhön oder an der Bergstraße. Die Umweltschützer fürchten, dass dort ohne den rechtlichen Rahmen eines Naturschutzgebiets bald wieder Bäume gefällt werden könnten.
Der Einfluss der EU ist begrenzt, das zeigt dieses Beispiel - und das soll so sein. Die Mitgliedsstaaten bleiben souverän. Was aus einer Richtlinie wird, zeigt sich erst auf Bundes- oder eben Landesebene.
3. Europäische Asylreform und Geflüchtete in Gießen
Im April 2024 beschloss das Europaparlament nach jahrelangem Streit eine Reform des Asylrechts. Die EU-Staaten stimmten den Plänen am Dienstag zu. Damit werden die Regeln für die Aufnahme von Geflüchteten künftig strenger. Auch diese EU-Entscheidung betrifft Hessen.
2023 kamen nach Angaben des Sozialministeriums mehr als 22.800 Asylsuchende nach Hessen. Besonders viele waren es zuletzt 2022, nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine: Damals nahm Hessen rund 100.000 Menschen auf. Allein im März 2022 zählte die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen 11.000 Geflüchtete, wie das zuständige Regierungspräsidium mitteilte - fast alle aus der Ukraine.
Weil sich Behelfsunterkünfte in Turnhallen und Zelten rasch füllten, schlugen Kreise und Kommunen seitdem immer wieder Alarm: Sie könnten die Menschen kaum unterbringen, die Kosten kaum stemmen.
Auswirkungen auf Hessen
Diskussionen um die europäischen Asylregeln gab es nicht nur zwischen EU-Staaten, sondern auch in Hessen. Ministerpräsident Borin Rhein (CDU) sah in den Plänen einen Schritt "in die richtige Richtung", die Linkspartei einen "Anschlag auf die Menschenrechte." Die Grünen waren sich sogar parteiintern uneins: Dort reichte das Meinungsspektrum von Zustimmung zu einem "notwendigen Schritt" (Omid Nouripour) bis Entsetzen (Grüne Jugend).
Nachdem die EU-Asylreform nun beschlossene Sache ist, hoffen viele Länder und Kommunen, dass langfristig weniger Geflüchtete kommen könnten. "Endlich stimmt die Richtung", begrüßte etwa der Deutsche Landkreistag die EU-Entscheidung.
Ob die Gießener Erstaufnahmeeinrichtung künftig weniger zu tun haben wird, dazu will das Regierungspräsidium (RP) dort noch keine Einschätzung abgeben.
Bis die Auswirkungen der Asylreform sich in Hessen zeigen können, dürfte es noch mindestens zwei Jahre dauern: So lange haben die EU-Staaten Zeit, um die Änderungen in ihr nationales Recht einzuführen.