Unmut vor der Europawahl Bauern fordern Bürokratie-Abbau: "Schreckt junge Leute ab"
Landwirte verbringen nach eigenem Bekunden immer mehr Zeit im Büro, um Papierkram für Behörden zu erledigen. Der Ärger ist deswegen groß. Vor der Europawahl fordern sie weniger Belastungen durch die Bürokratie.
Bürokratie kostet die Landwirte bereits seit Ewigkeiten Zeit, Geld und Nerven. Auch Hessens Bauern haben da unliebsame Erfahrungen gemacht. Und wenn Landwirt Torben Eppstein die immer wiederkehrenden Ankündigungen aus der Politik zu angestrebtem Bürokratie-Abbau hört, rüstet er im Büro schon mal sicherheitshalber auf.
"Wenn's heißt: Neue Maßnahmen zum Bürokratie-Abbau geplant, dann kaufe ich schon mal neue Aktenordner und Büroschränke. Darin habe ich schon viel investieren müssen", sagt Eppstein mit einem Anflug von Galgenhumor. Denn nicht nur er hat das Gefühl: Zuletzt ist es für die Betriebe mehr statt weniger Bürokratie geworden - trotz aller Beteuerungen.
"Entbürokratisierung" für Landwirte ein rotes Tuch
Eine Sprecherin des Hessischen Bauernverbands sagte vor kurzem beim Landesbauerntag in Alsfeld (Vogelsberg) zum Dauerbrenner-Thema: "Der Begriff 'Entbürokratisierung' ist für Landwirte ein rotes Tuch. Bisherige politische Versuche haben meist zu noch mehr Bürokratie geführt, anstatt sie zu vereinfachen."
Eppstein, der in Weilmünster (Limburg-Weilburg) einen Betrieb mit Milchvieh, Hähnchenmast und Ackerbau betreibt, fällt der Glaube an Besserung schwer. "Schon mein Großvater und Vater haben auf Bürokratie-Abbau gehofft - es waren immer nur leere Versprechungen."
Hoffnungen auf neue Agrar-Politik nach Europawahl
Die Europawahl am 9. Juni, eine mögliche Änderung der Agrar-Politik in Brüssel und das Wirken der erst seit ein paar Monaten amtierenden Landesregierung in Hessen – die Hoffnungen sind derzeit abermals groß, dass Bürokratie-Abbau gelingt, zumindest ein Stück weit. Denn seit Jahrzehnten steht das Thema immer wieder auf der politischen Agenda von Parteien und Parlamenten.
Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) machte beim Landesbauerntag keine Ausnahme und versprach Gegenmittel. Er kündigte an, die Dokumentations-, Antrags- und Meldepflichten auf den Prüfstand stellen zu wollen und Auflagen vereinfachen zu lassen. Rhein sprach von einem "Regelungswirrwarr" – die neue Koalition setze sich für die Beseitigung des "Bürokratie-Wahnsinns" ein. Der Applaus der Landwirte war ihm damit sicher.
Das dringend etwas passieren muss, betonte auch der Präsident des Deutschen Bauernverbands. Joachim Rukwied warnte: "Unsere Betriebe werden von der Bürokratie erdrückt. Dieser Aufwand kostet immens viel Zeit und damit Geld."
Viertel der Zeit geht fürs Büro drauf
Wie viel wertvolle Arbeitszeit es kostet, erklärte Milchvieh- und Ackerbauer Stefan Schneider aus Künzell (Fulda): Ein Viertel gehe mittlerweile fürs Büro drauf. Zu Einschätzungen in diesen Größenordnungen kommen auch der Bauernverband und das Landwirtschaftsministerium in Wiesbaden.
Schneider kritisiert: Bürokratie verschlinge immer mehr Zeit. Vor zehn Jahren sei es nur etwa die Hälfte der Zeit gewesen. Denn er muss bei Behörden und in Datenbanken zum Beispiel Angaben doppelt und dreifach machen. Vernetzung untereinander durch Digitalisierung? Fehlanzeige!
Schneider, zugleich Vize-Präsident im Hessischen Bauernverband, sagt: "Es ist ein komplizierter Wust an Vorschriften und Verordnungen geworden. Es fällt schwer, den Überblick zu behalten." Und dann müsse der mittlerweile "gläserne Landwirt" auch noch jederzeit mit Kontrollen rechnen, weiß Hessens Bauernpräsident Karsten Schmal.
Vorgaben werden nicht mehr verstanden
Warum die Bürokratie soviel Platz einnimmt? Das Landwirtschaftsministerium erklärte: Es gebe eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen verschiedener Rechtsbereiche, wie Tierhaltung, Tierschutz, Pflanzen-, Umwelt- und Naturschutz, Wasser- und Bodenschutz, Statistik oder Förderung. Und fast jeder habe eigene Melde- und Dokumentationspflichten.
Teilweise würden laut Ministerium zu Tätigkeiten, wie etwa beim Pflügen und der Begrünung von Ackerflächen oder die Bewirtschaftung an Gewässerrändern, unterschiedliche Regelungen und Fristen gesetzt. "Es kommt dadurch zu Mehrfachmeldungen und intransparenten Bewirtschaftungsauflagen, die in der Praxis nicht mehr verstanden werden", räumte eine Sprecherin ein.
"Risiko, Fehler zu begehen, steigt"
Hessens Bauernpräsident Schmal ist auch der Meinung: Viele Vorgaben hätten keinen praktischen Nutzen, weder für die Landwirte noch für die Kontrolleure.
Die Folge für die Landwirte laut Ministerium: "Es muss sehr viel mehr Zeit am Schreibtisch verbracht werden." Viele Bauern müssten sogar verstärkt externe Beratung hinzuziehen. "Denn das Risiko, Fehler zu begehen oder gegen Vorschriften zu verstoßen, steigt." Dann drohten Bußgelder oder gekürzte Fördergelder.
Länderpolitik mit wenig Einfluss
Abhilfe zu schaffen, sei aber nicht so einfach, betonte das Ministerium. EU- und Bundespolitik hätten erheblichen Einfluss. Die Bundesländer selbst hätten nur geringe Gestaltungsmöglichkeiten bei Gesetzen und Verordnungen. Hessen könne bei Förderrichtlinien nur auf eine Vereinfachung hinwirken.
Das Ministerium erklärte zur Suche nach Lösungen: Wichtig sei eine zwischen Bund und Ländern abgestimmte Vorgehensweise. Und wichtig sei, bestehende Vorschriften zu entschlacken und neuer bürokratische Vorgaben zu vermeiden. Konkret geplant sei nun eine Steuerungsgruppe beim Bundesministerium mit Länderbeteiligung.
Stopp neuer Auflagen aus Brüssel gefordert
Hessens Bauernpräsident Schmal ist aber nicht sonderlich optimistisch, dass in Berlin Lösungen gefunden werden: "In der Berliner Blase merken sie gar nicht mehr, wie der ländliche Raum tickt und Landwirtschaft funktioniert."
Von der EU-Politik wünscht sich das Ministerium in Wiesbaden dagegen erstmal einen sofortigen Stopp, zumindest aber ein Moratorium für die Einführung und Umsetzung neuer Vorschriften. Und ein Praktiker wie Landwirt Schneider hofft: "Ich würde mir wünschen, dass man auch mal den Mut hat, eine Verordnung zu streichen."
"Wird junge Leute abschrecken, den Job zu machen"
Denn wenn Landwirte vor lauter Bürokratie nicht mehr zum Arbeiten kommen, habe das fatale Folgen für den Berufsnachwuchs: "Wenn man plötzlich stundenlang am Schreibtisch hockt statt im Stall oder auf dem Feld zu sein, wird das auch junge Leute abschrecken, den Job zu machen."
Landwirt Eppstein fordert: "Wir brauchen klare Vorgaben von oben, die für ganz Europa gelten, einen fairen Wettbewerb bringen und vor allem von allen verstanden werden."
Sendung: hr-iNFO, 22.05.2024, 17.50 Uhr
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