Streit um AKW-Bauschutt Strahlenexperte zu Biblis: "Wir sind auf der sicheren Seite"
Einige tausend Tonnen Baumaterial aus dem Abriss des Atomkraftwerkes Biblis sollen auf eine Mülldeponie nach Büttelborn. Die Angst vieler Menschen kann der Gießener Strahlenphysiker Breckow gut verstehen. An seiner wissenschaftlichen Bewertung ändert das nichts.
Betonbrocken, Dachziegel und anderer Bauschutt sollen demnächst ohne allzu große Sicherheitsvorkehrungen auf eine Deponie in Büttelborn (Groß-Gerau) wandern. Die bis zu 3.200 Tonnen rufen bei Anwohnern und Umweltschützern erregte Proteste hervor, auch im Landtag gibt es Kritik aus den Reihen der Opposition am Vorgehen der Landesregierung. Denn es handelt sich um leicht radioaktiven Bauschutt des Atomkraftwerkes in Biblis (Bergstraße), das derzeit abgerissen wird.
Wie begründet sind die Sorgen? Darüber haben wir mit dem Strahlenexperten Joachim Breckow von der Technischen Hochschule Mittelhessen gesprochen.
hessenschau.de: Herr Professor Breckow, eine Bürgerinitative wirft Hessens grüner Umweltministerin Priska Hinz vor, den Menschen werde Atommüll vor die Füße gekippt. Wie groß ist das Risiko, das von dem Bauschutt ausgeht?
Joachim Breckow: Es handelt sich um Stoffe, die als nicht radioaktiv eingestuft sind. Das ist zwar Material aus dem Atomkraftwerk. Aber von dort gibt es jede Menge von sehr unterschiedlichen Stoffen. Es gibt welche, die sind hochradioaktiv. Und es gibt solche, die nicht anders sind als andere Stoffe aus der normalen Umgebung.
hessenschau.de: Die Landesregierung spricht von leicht radioaktivem Abfall. Ganz so harmlos klingt das nicht.
Breckow: Jeder Stoff ist mit einer gewissen Radioaktivität belastet. Solche Strahlen können auf verschiedenen Wegen in den Körper eindringen und auch Schädigungen hervorrufen. Und sie kommen eben überall vor, auch und vor allem in der Natur. Es gibt überhaupt keinen Stoff, der nicht radioaktiv wäre.
hessenschau.de: Als Beweis für die Unbedenklichkeit des Mülls führt das Umweltministerium an, dass er freigemessen wurde. Was bedeutet das?
Breckow: Die Freimessung zeigt, ob ein Stoff eine sehr viel geringere Radioaktivität hat als andere Stoffe in unserer unmittelbaren Umgebung.
hessenschau.de: Vom Material aus Biblis für Büttelborn soll eine Belastung von weniger als 10 Mikrosievert pro Mensch und Jahr ausgehen.
Breckow: Zur Bewertung der Belastung zieht man Strahlenwerte aus dem Alltag und der Natur heran. Ganz grob gesagt sind 10 Mikrosievert ein Hundertstel von dem, was man in der Natur an Radioaktivität abbekommt.
Es werden ja in der aktuellen Debatte einige Vergleiche herangezogen: Ein Jahr lang auf einer Deponie zu stehen, die diesen Wert einhält, ist so viel wie eine Stunde lang zu fliegen, sich zwei Tage lang in einer Wohnung statt draußen im Zelt aufzuhalten oder eine Woche Urlaub im Schwarzwald zu machen. Und diese Vergleiche stimmen auch: Das alles bringt die gleiche Strahlendosis und auch Wirkung mit sich wie das, was aus Biblis auf die Deponie kommen soll.
hessenschau.de: Also ist die Dosis so gar kein Problem?
Breckow: Man kann einer Strahlung nie ausweichen. Wir sind ihr vor allem aus natürlichen Quellen immer und überall ausgesetzt. Und verglichen damit ist die Dosis des freigemessenen Bauschutts von Biblis wirklich vernachlässigbar.
hessenschau.de: Viele Menschen haben trotzdem Angst. Nimmt die Politik das aus Ihrer Sicht ernst genug?
Breckow: Der Grenzwert, der auch für die Deponie in Büttelborn gilt, ist aufgrund wissenschaftlicher Empfehlungen entstanden. Ich habe zum Teil daran mitgewirkt, und die Politik ist diesen Empfehlungen gefolgt. Aber selbstverständlich lassen sich die Ängste nicht so einfach wegwischen. Und wenn man Angst vor etwas hat, ist es erst einmal egal, ob jemand anderes sie für begründet hält oder nicht.
Es kann aber helfen, den Umstand einzuordnen, der mir Angst macht: Gibt es irgendetwas Vergleichbares, vor dem ich weniger Angst habe? Auf diese Weise kann man den Dingen auf einer eher rationalen Ebene begegnen.
hessenschau.de: Aber Wissenschaft entwickelt sich. Was, wenn es in ein paar Jahren oder Jahrzehnten aufgrund neuer Erkenntnisse ein böses Erwachen gibt?
Breckow: Das ist ein plausibles Argument. Bei der Feststellung des Grenzwertes haben wir den Einwand berücksichtigt. Wir können nun einmal nicht auf Erfahrungen mit schädlichen Folgen zurückgreifen, weil bisher bei solchen Dosen keine beobachtet wurden. Es wurde viel beobachtet. Mit Strahlung hat die Wissenschaft seit rund 100 Jahren zu tun, und wir haben über sie mehr Erkenntnisse als auf manch anderem Gebiet. Wenn wir das Risiko unterschätzt hätten, wäre das schon beobachtet worden. Wir sind mit diesem Wert durchaus auf der sicheren Seite.
hessenschau.de: Unter den Gegnern der Deponierung sind neben Anwohnern und Oppositionspolitikern viele Naturschützer und andere, die sich mit Strahlung auskennen. Die überzeugen Ihre Argumente auch nicht.
Breckow: Als Naturwissenschaftler kann ich sagen: Die Deponierung ist bei der Dosis zu verantworten. Aber das ist bei einer solchen Entscheidung eben ein Aspekt unter mehreren. Es ist eine politische Entscheidung, die unter anderem auch Ängste der Menschen einbeziehen muss und die deshalb auch kontrovers behandelt werden kann.
Ich habe großes Verständnis für die bestehenden Befürchtungen und das Bedürfnis nach Information, zumal der Begriff Strahlung an sich schon nicht neutral aufgefasst wird. Da ist es Aufgabe von Wissenschaftlern wie mir zu informieren.
hessenschau.de: Kommen wir noch mal auf die Kritik zurück, den Anwohnern werde der Biblis-Müll vor die Füße gekippt: Würden Sie sich wohl fühlen, wenn Sie wüssten, ein solcher Bauschutt liegt in Ihrem Garten vergraben?
Breckow: Müll will niemand gerne im Garten haben. Aber was die Strahlung angeht, würde ich das bedenkenlos akzeptieren.
Das Gespräch führte Simone Behse.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 11.01.2023, 16.45 Uhr
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