Was die Böhmermann-Leaks zu den hessischen NSU-Akten bedeuten
Was hat der hessische Verfassungsschutz über Rechtsextremisten und die mordenden Terroristen des NSU zusammengetragen? Welche Schlüsse wurden daraus gezogen? Eigene Erkenntnisse darüber wollte die Behörde noch lange geheim halten. Das ZDF Magazin Royale hat sie nun veröffentlicht.
Der sogenannte NSU ("Nationalsozialistischer Untergrund") zog über Jahre durch die Bundesrepublik und ermordete zehn Menschen. Die Sicherheitsbehörden kamen dem NSU erst auf die Schliche, als er sich 2011 quasi selbst enttarnte. Jetzt haben die Plattform "Frag den Staat" und das ZDF Magazin Royale von Jan Böhmermann nach eigenen Angaben hessische NSU-Akten veröffentlicht, die als geheim eingestuft sind. Die Öffentlichkeit habe ein Recht zu erfahren, was die Dokumente beinhalten, "die ursprünglich für mehr als ein Jahrhundert geheim bleiben sollten", heißt es auf einer dazu eingerichteten Website.
Was für Akten sind das?
Bei den sogenannten NSU-Akten handelt es sich um zwei Berichte des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV), in denen die eigene Arbeit in Sachen Rechtsextremismus analysiert wird. Die Berichte hatte 2012 der damalige Innenminister Boris Rhein (CDU), jetziger Ministerpräsident Hessens, beauftragt. Rhein wollte sich auf mögliche politische Überraschungen vorbereiten und wissen, was womöglich noch in den Archiven des Verfassungsschutzes schlummert, also was der Verfassungsschutz in den Jahren 1992 bis 2012 über Rechtsextremismus zusammengetragen hat – und über das NSU-Trio.
Das ZDF Magazin Royale sagt, es habe die Akten aus Quellenschutz-Gründen komplett abgetippt und ein neues Dokument angelegt, das keine digitalen oder analogen Spuren enthalte. Das transkribierte Dokument entspreche in seinem Inhalt dem Original. Diese Einschätzung teilt auch die Linken-Fraktion im Landtag nach einem Abgleich der Akten, wie der innenpolitische Sprecher Torsten Felstehausen am Samstag erklärte.
Welche neuen Erkenntnisse liefern die von Böhmermann geleakten Berichte?
Über den NSU selbst findet sich laut den Rechercheuren von "Frag den Staat" und ZDF Neo Magazin Royale in den 173 nun veröffentlichten Seiten wenig. Das Urteil der Journalisten über den hessischen Verfassungsschutz aber ist deutlich: Man bekomme ein "mehr als zweifelhaftes Bild" von dessen Arbeit. Die Behörde habe viele Infos gesammelt, diese aber kaum miteinander verbunden oder analysiert, außerdem sei sie Hinweisen auf Waffen- und Sprengstoffbesitz von Rechtsextremen nicht nachgegangen.
Übrigens konnten, obwohl Verschlusssache, in den vergangenen Jahren bereits einzelne Politiker und Journalisten die Akten in Untersuchungsausschüssen unter Auflagen einsehen. Ihr Fazit war dabei weitgehend ähnlich wie das des ZDF-Magazins.
Was sagt der Verfassungsschutz zu den Berichten?
Der hessische Verfassungsschutz teilte mit, das Landesamt habe die Sendung von Jan Böhmermann vom Freitagabend "zur Kenntnis genommen". Die "im Zusammenhang mit der Sendung erstellten und im Internet veröffentlichten Dokumente" würden nun geprüft, insbesondere im Hinblick auf enthaltene personenbezogene Daten und "tangierte Staatswohlbelange". Auf den Inhalt der Akten ging das Amt nicht ein.
Wie fallen die Reaktionen auf die veröffentlichten Berichte zum NSU aus?
Der langjährige Linken-Landtagsabgeordnete Hermann Schaus zeigt sich hoch erfreut: "Mein Eindruck ist, dass sich seit dem Bericht bei dem besonderen Schlendrian, der Überbürokratisierung im hessischen Verfassungsschutz, wenig Gravierendes getan hat. Ich hoffe, dass jetzt nochmal nachgearbeitet wird." Es sei beschämend für die Landesregierung, dass sie den Bericht nicht öffentlich gemacht habe, nachdem eine Petition von 134.000 Menschen das eingefordert hatte, sondern dass es dazu investigative Journalisten gebraucht habe. Schaus vermutet: "Die lange Geheimhaltung sollte wohl eher dazu dienen, Fehler zu verdecken als Mitarbeiter und Quellen zu schützen."
Holger Bellino, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion im Landtag, bestreitet das. Die Veröffentlichung bringe den Angehörigen der NSU-Opfer keinen neuen Erkenntnisgewinn, teilte er mit, könne dafür aber großen Schaden anrichten. "Es ist nicht auszuschließen, dass Extremisten durch die Verknüpfung dieser Informationen aus anderen Dokumenten Rückschlüsse auf Arbeitsweise und Informanten der Sicherheitsbehörden ziehen können." Auch die Pressefreiheit habe Grenzen, so Bellino, und die habe Jan Böhmermann überschritten. Ohnehin frage er sich, wie das ZDF überhaupt an die Berichte gekommen sei und wie die Linke so schnell deren Echtheit habe bestätigen können.
Die Grünen im Landtag, die mit der CDU gegen eine Veröffentlichung der Akten gestimmt hatten, teilten mit: "Wir schauen uns den Vorgang sehr genau an und werden ihn zu gegebener Zeit bewerten." SPD, FDP und AfD äußerten sich zunächst nicht.
Die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yildiz, die im NSU-Prozess die Familie des Opfers Enver Şimşek vertrat, nannte die Veröffentlichung der Akten auf Twitter "sehr aufschlussreich". Es sei unfassbar, welchen Hinweisen offenkundig nicht nachgegangen worden sei.
Was verändert die Veröffentlichung nun?
Die Veröffentlichung wirft ein neues Schlaglicht auf das Thema, sorgt für öffentliche Aufmerksamkeit und könnte eine neue politische Debatte über den Verfassungsschutz und seine Arbeitsweise anstoßen. Und: Sie wird vielen Menschen Genugtuung bringen, die schon seit Jahren gefordert hatten, dass alle Menschen die Unterlagen einsehen können sollten. Das hatten beispielweise die 134.517 Unterzeichner*innen einer Petition gefordert.
Insbesondere wird es wohl für die Angehörigen der Opfer große Bedeutung haben, die Dokumente einsehen zu können. So fragte Abdulkerim Şimşek, der Sohn des ersten NSU-Opfers Enver Şimşek, 2019 den Spiegel, was es ihm nütze, dass der hessische Verfassungsschutz die Sperrfrist der NSU-Akte von 120 Jahren auf 30 Jahre herabgestuft habe: "Ich will jetzt wissen, was da drinsteht". Seit Freitagabend kann er es lesen.
Sendung: hr-iNFO, 29.10.2022, 12 Uhr
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