Aufruf an Land und Bund "Fünf nach zwölf": Nordhessische Landkreise fürchten Finanz-Kollaps

Gestiegene Sozialabgaben belasten die Haushalte von Jahr zu Jahr mehr. Jetzt schlagen vier Landräte und eine Landrätin aus Nordhessen Alarm. Sie wissen nicht mehr, wie sie die Kosten etwa für Krankenhäuser oder Ganztagsbetreuung stemmen sollen: "Wir sind zu Insolvenzverwaltern mutiert."

Auf einem blauen Hintergund sind in einer Hessenkarte die fünf nördlichen Landkreise eingezeichnet. Davor ein kleines Gruppenfoto der fünf Landräte und davor die fünf Wappen der Landkreise nebeneinander.
Die Landräte Winfried Becker (SPD, Schwalm-Eder) und Andreas Siebert (SPD, Kassel) mit Landrätin Nicole Rathgeber (Freie Wähler, Werra-Meißner) in der unteren Reihe und Torsten Warnecke (SPD, Hersfeld-Rotenburg) und Jürgen van der Horst (parteilos, Waldeck-Frankenberg) in der oberen Reihe. Bild © hr / Stefanie Küster, Wikimedia, Collage: hessenschau.de

So geht es nicht weiter - das haben vier Landräte und eine Landrätin aus Nordhessen bei einem Termin im Kreishaus in Kassel deutlich gemacht. 800.000 Menschen repräsentieren Andreas Siebert (SPD, Kassel), Jürgen van der Horst (parteilos, Waldeck-Frankenberg), Winfried Becker (SPD, Schwalm-Eder) und Torsten Warnecke (SPD, Hersfeld-Rotenburg), sowie Landrätin Nicole Rathgeber (Freie Wähler, Werra-Meißner) in ihren Landkreisen.

Bei dem Termin am Mittwochnachmittag haben sie jetzt ein Positionspapier an Land und Bund unterzeichnet. Darin heißt es: "Es ist fünf nach zwölf! Das Geld fehlt!"

Erstmals in der Geschichte haben die Landräte und die Landrätin über alle Parteigrenzen hinweg gemeinsam ihren Blick auf die Situation und die damit verbundenen Forderungen vorgestellt.

Videobeitrag

Nordhessische Landkreise klagen über klamme Kassen

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Geld reicht nicht für alle Aufgaben

Ihr Auftritt gleicht einem Hilferuf. Die Landkreise in Nordhessen verzeichnen einen steigenden Finanzierungsbedarf. Sie alle haben das gleiche Problem: Das Geld reicht nicht mehr aus, um den übertragenen Aufgaben wie zum Beispiel für Ganztagsbetreuung, Krankenhäuser oder Katastrophenschutz gerecht zu werden. Sie fordern mehr finanzielle Mittel von Land und Bund.

Landrat Becker aus dem Schwalm-Eder-Kreis bringt es auf den Punkt: "Wir werden an die Wand gefahren, mit einer Ausgaben-Politik, die wir nicht verantworten."

Sein Kollege aus Waldeck-Frankenberg, Landrat van der Horst sieht "eine Krisensituation, die Bund und Länder lösen müssen". Wenn eine Aufgabe politisch gewollt sei, müsse klar sein, wie sie finanziert werden kann, so van der Horst.

Sorge um die Demokratie

Kassels Landrat Siebert sieht nicht nur die "Handlungsfähigkeit der behördlichen Ebene in Gefahr". Angetrieben sind die Landkreischefs auch von der Sorge um die Demokratie.

Kollege Becker aus dem Schwalm-Eder-Kreis fürchtet, dass die politischen Ränder gestärkt werden. Die Menschen nähmen zunehmend "Schwarz-Weiß-Botschaften" auf, das sei "eine Gefahr".

Kreistag bezeichnete Haushaltslage als "alarmierend"

Schon Anfang November 2024 hatte die Mitgliederversammlung des Hessischen Kreistages die knappen Kassen der Landkreise zum Thema gemacht und eine Erklärung an die Landesregierung in Wiesbaden gerichtet.  

Bereits damals hatten die 21 Vertreterinnen und Vertreter der 21 hessischen Landkreise ihre Haushaltslage als "alarmierend" bezeichnet und vor Millionendefiziten für das Haushaltsjahr 2025 gewarnt. 

Dringenden Handlungsbedarf hatten die Teilnehmer des Landkreistages unter anderem bei den Bereichen Flucht und Migration sowie ÖPNV ausgemacht. 

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So finanzieren sich die Landkreise in Hessen

Die hessischen Landkreise hängen von den Zuweisungen aus Bund oder Land ab. Sie verfügen über keine wesentlichen eigenen Einnahmen. Darüber hinaus erhalten sie Zahlungen von den Städten und Gemeinden in ihrem Landkreis. Diese sogenannte Kreisumlage ist eine wichtige Einnahmequelle. Sie belastet gleichzeitig die Kommunen im Landkreis. Das Land Hessen unterstützt die Landkreise durch den Kommunalen Finanzausgleich (KFA).

Dabei dürfen die Kreise Kredite für langfristige Investitionen aufnehmen, beispielsweise für den Bau von Schulen. Diese müssen allerdings durch die zuständige Aufsichtsbehörde genehmigt werden. Dazu wird die Verschuldung überwacht, um die finanzielle Stabilität der Landkreise zu sichern.

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Positionspapier mit zentralen Forderungen

Jetzt legten die Nordhessen nach. Ihre Forderungen im Positionspapier umfassen verschiedene Bereiche. So soll nach Willen der fünf Landkreischefs die Verteilung von Steuergeldern angepasst werden. Eine Möglichkeit sei die "Neuaufteilung der Umsatzsteuer". Im Papier wird demnach gefordert, Kreise und Kommunen stärker an den Umsätzen in der Region zu beteiligen.

Eine Ausweitung von Leistungen lehnen die Fünf ab, sollte eine vollständige Kostenübernahme durch Bund und Land nicht gesichert sein. Dazu fordern sie dazu auf, alle "maßgeblichen (Sozial-)Leistungsgesetze auf Wirksamkeit, Angemessenheit und Finanzierbarkeit zu überprüfen".

Sozialleistungen, Ganztag, Krankenhäuser

Denn genau diese Sozialleistungen wiegen nach Auffassung der Landkreis-Chefs besonders schwer. Landrätin Rathgeber sprach von einem "eklatanten Anstieg" der Transferleistungen wie beispielsweise Bürgergeld, BAföG oder Elterngeld. Im Vergleich zu 2020 verzeichne sie eine "dramatische Entwicklung". Damals habe man im Werra-Meißner-Kreis mit 60 Millionen Euro geplant, für 2025 seien es 95 Millionen.

90 Prozent der Einnahmen fließe "in den Berg Jugend, Senioren und Soziales", so Rathgeber. Für den Rest bliebe dann nur 10 Prozent. "Das ist eine Dramatik, wo wir nicht mehr wissen, wie wir sie bewältigen sollen", so die Landrätin. 

Auch die Ganztagsbetreuung an Schulen ist ein Thema für die Landräte. Dieser sei so nicht zu stemmen heißt es von Siebert, Becker, Rathgeber, van der Horst und Warnecke. Ab 2026 muss für alle Kinder der 1. Klasse eine Ganztagsbetreuung umgesetzt werden. Für die Kreise bedeutet das eine ehebliche Kraftanstrengung, wie Landrat Becker am Beispiel des Schwalm-Eder-Kreises darlegte.

Für das erweiterte Betreuungsangebot stünden nicht ausreichend Räume zur Verfügung, es müsse gebaut werden. 10 Millionen hat der Kreis bereits investiert, weitere 20 Millionen stehen noch aus. Das Bundesprogramm liefere lediglich 8 Millionen, so Becker, den Rest müsse man aus der eigenen Kasse bezahlen.

Ein weiteres Sorgenkind sind die Krankenhäuser, die alle rote Zahlen schreiben. Dabei habe man einen Versorgungs- und Sicherstellungsauftrag, so Landrat Warnecke. In seinem Kreis sind alle Kliniken defizitär.

Erst Ende November hatte Gesundheitsministerin Diana Stolz (CDU) die Pläne für die hessischen Krankenhäuser vorgestellt und Nachbesserungen bei der Finanzierung vom Bund gefordert. Die Hessische Krankenhausgesellschaft warnte vor Standortschließungen.

Geld brauche man dazu für den Katastrophen- und Zivilschutz, ergänzte Landrat Siebert. Es gebe zurecht eine Erwartungshaltung der Bevölkerung. Wetterereignisse wie in Gottsbüren (Kassel) hätten gezeigt, dass dieser Bereich wichtig sei. Dennoch sei er "massiv unterfinanziert", so Siebert. "Wir können unserem Auftrag da kaum nachkommen." 

Land: Finanzielle Lage der Kommunen "erheblich verbessert"

Das Hessische Finanzministerium äußerte sich gegenüber dem hr schriftlich. So habe sich die finanzielle Lage der Kommunen in den letzten zehn Jahren durch Eigenanstrengung und Hilfe des Landes "erheblich verbessert". Als Beispiele nannte eine Sprecherin den Schutzschirm, das Kommunalinvestitionsprogramm (KIP) und die Hessenkasse als Entschuldungsprogramm für hessische Kommunen.

Dazu sei der Bestand an Liquiditätskrediten der Kommunen kontinuierlich gesunken. 2023 lag er laut Sprecherin mit unter 100 Millionen auf "einem historisch niedrigen Niveau". Gleichzeitig sei das Finanzvermögen der Kommunen seit Jahren gestiegen.

Dabei hat die Mehrheit der hessischen Kommunen bereits das Jahr 2023 mit einem Minus abgeschlossen. Der Rechnungshof sprach im Oktober letzten Jahres vom schlechtesten Ergebnis seit zehn Jahren. 

Konnexitätsprinzip: Wer bestellt, zahlt

Das Land sorge dafür, dass die Regeln der Hessischen Verfassung zum Konnexitätsprinzip eingehalten werden, so die Sprecherin. Wenn das Land den Kommunen neue Aufgaben gibt oder bestehende Aufgaben ändert, bekommen die Kommunen dafür den vorgeschriebenen Ausgleich.

Die hessische Landesregierung befinde sich mit den kommunalen Spitzenverbänden "in einem regelmäßigen und konstruktiven Austausch", heißt es. Angesichts der wirtschaftlichen Schwäche Deutschlands sei die finanzielle Ausstattung allerdings für keine der staatlichen Ebenen zufriedenstellend.

"Sind zu Insolvenzverwaltern mutiert"

Nicht zufriedenstellend - so bewerten die Landräte die Finanzierung ihrer Ausgaben. Auch wenn rein rechnerisch ausreichend Geld vorhanden sein sollte - laut Ministeriumssprecherin verfügen die hessischen Kommunen zusammen über liquide Mittel in Höhe von mehr als 5,7 Milliarden Euro - sehen sie ihre Rücklagen in Gefahr.

Von elf Millionen auf minus 17 Millionen - so fasst Landrätin Rathgeber den Kontostand des Werra-Meißner-Kreises knapp zusammen. Und auch im Landkreis Kassel wird es laut Siebert einen extra Beschluss geben, um den Liquiditätskredit auf 75 Millionen Euro zu erhöhen. Für den Landrat ist das eine nie dagewesene Dimension.

Und auch nicht das, wofür er einst als Landrat angetreten ist: mit dem Ansinnen, im eigenen Landkreis zu gestalten. "Jetzt sind wir zu Insolvenzverwaltern mutiert", so der SPD-Mann. Ob das Positionspapier in Wiesbaden und im Bund Gehör finden wird, muss sich zeigen. Landrat Siebert hofft darauf - und auf "eine neue Grundvereinbarung".

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de mit Material von Kathinka Mumme (hr)