Kritik an Wahlrechtsreform Wahlkreis gewonnen, aber doch nicht im Bundestag
Darmstadt wird im neuen Bundestag nicht mehr repräsentiert, aus Frankfurt ziehen statt der beiden CDU-Wahlkreissieger vier Kandidaten anderer Parteien über ihre Landeslisten ein: Die Folgen der Wahlrechtsreform sind in Hessen deutlich spürbar. Selbst einige Profiteure stimmt das nachdenklich.

Es war ein echter Wahlkrimi: Bis kurz vor Mitternacht lief am Sonntag das Kopf-an-Kopf-Rennen um die Erststimmen im Frankfurter Wahlkreis I: Am Ende setzte sich CDU-Kandidat Yannick Schwander mit nur 0,3 Prozent mehr Stimmen gegenüber Armand Zorn (SPD) durch.
"Das war natürlich erstmal ein schönes Gefühl, aber direkt im nächsten Moment war auch klar: Es reicht leider nicht", sagt der Frankfurter Christdemokrat Schwander am Morgen danach. Soll heißen: In den Bundestag wird er trotz Wahlkreissieg nicht einziehen. Grund dafür ist das neue Wahlrecht.
Dass es zu solch einem Wahlkreissieg ohne Direktmandat kommen könnte, sei ihm zwar bewusst gewesen. "Ich habe aber im Wahlkampf versucht, Kraft daraus zu schöpfen und mich und meine Wahlkämpfer zu motivieren - es ging wirklich um jede Stimme, dieses Mal erst recht", so Schwander.

Letztendlich waren es für ihn zu wenige Stimmen. Nach der Reform des Wahlrechts von 2023 dürfen erstmals nur noch so viele Wahlkreissieger in den Bundestag einziehen, wie durch das Zweitstimmenergebnis der Partei gedeckt ist.
Fünf Wahlkreise in Hessen betroffen
Die CDU gewann in Hessen 20 von 22 Wahlkreisen - zu viele, gemessen am Zweitstimmenergebnis. Die Kandidaten mit den wenigsten Stimmen unter den Wahlkreissiegern gehen deshalb leer aus.
In Hessen sind das die fünf CDU-Kandidaten Marcus Kretschmann im Wahlkreis Groß-Gerau, Anna-Maria Bischof im Schwalm-Eder-Kreis, Astrid Mannes in Darmstadt - und die beiden Frankfurter Yannick Schwander und Leopold Born.
Grünen-Politiker Nouripour: "Kann das niemandem erklären"
Gleichzeitig schaffen es in Frankfurt einige ihrer Kontrahenten aber dank hoher Landeslistenplätze ihrer Parteien trotzdem in den Bundestag: Armand Zorn (SPD), Janine Wissler (Linke), Deborah Düring (Grüne) und Omid Nouripour (Grüne).

"Ich fürchte, ich kann das niemandem erklären", sagt Nouripour am Montag auf Anfrage dem hr. Er hatte gehofft, den Frankfurter Wahlkreis II erneut für sich zu gewinnen, landete aber mit 26,4 Prozent knapp hinter CDU-Kandidat Born (27,4 Prozent).
Was er fordert, war bislang hauptsächlich aus der CDU zu hören: "Es ist dringend notwendig, dass wir uns das Wahlrecht an dieser Stelle noch einmal anschauen", so Nouripour. Dabei hatte seine Partei erst im Jahr 2023 zusammen mit FDP und SPD die Wahlrechtsänderung beschlossen.
Schwander: Reform "voll und ganz schiefgelaufen"
Die Reform sollte vermeiden, dass der Bundestag durch Ausgleichs- und Überhangmandate wie in den vergangenen Jahren immer weiter wächst. Nach Schätzungen von Wirtschaftsforschern soll der Steuerzahler durch den geschrumpften Bundestag außerdem bis zu 125 Millionen Euro im Jahr sparen.
So war bei der Bundestagswahl 2025 von Anfang an klar, dass er aus 630 Abgeordneten bestehen würde - 106 weniger als zuletzt.
"Ich glaube, dass das voll und ganz schiefgelaufen ist, auch weil die Bürgerinnen und Bürger das im Wahlkampf überhaupt nicht verstanden haben", sagt der Frankfurter Wahlkreisgewinner Schwander.
Stimme für die Menschen vor Ort
Es sei "Aufgabe und Pflicht" der durch die Erststimme gewählten Abgeordneten, den Menschen vor Ort im Wahlkreis zuzuhören. "Ich wäre ja als Frankfurter Stimme nach Berlin gegangen", so Schwander. Die anderen Abgeordneten aus Frankfurt, die es nun über ihre Landeslisten in den Bundestag geschafft haben, seien aus seiner Sicht hingegen "in erster Linie Parteienvertreter".
Die neue Bundesregierung müsse sich das Thema erneut vornehmen, fordert er - sagt aber auch: "Das Ziel, den Bundestag kleiner zu machen, halte ich grundsätzlich für richtig." Aus seiner Sicht hätte es aber andere Optionen dafür gegeben, die nicht dazu führten, dass ganze Wahlkreise im Zweifel gar nicht mehr im Bundestag vertreten sind.
Darmstadt gar nicht mehr im Bundestag vertreten
So ist es in Darmstadt gekommen: Auch hier gewann die CDU-Kandidatin Astrid Mannes mit 26,7 Prozent zu knapp vor ihrem Herausforderer Philip Krämer von den Grünen (21,7 Prozent). Noch am Wahlabend war sie sicher, es nicht in den Bundestag zu schaffen.
"Die Menschen bekommen hier im Nachgang ihre Erststimme aberkannt", sagte sie in der hr-Wahlsendung. Gefühlt habe das mit Demokratie wenig zu tun, sagte Mannes. "Das wird die Politikverdrossenheit noch weiter nach oben treiben."
Vorwürfe machte sie dem SPD-Kandidaten Andreas Larem, der den Wahlkreis seit 2021 im Bundestag vertritt - und der für die Wahlrechtsreform gestimmt hatte. Er habe so mit dafür gesorgt, dass einerseits die Interessen der Region nicht mehr vertreten würden, andererseits auch Fördermittel an die Region eingeschränkt würden.
Bisheriger SPD-Abgeordneter Larem: "Hätte genauso gut mich treffen können"
Larem erklärt am Tag nach der Wahl, er stehe weiterhin zu seiner Abstimmungsentscheidung für die Reform. "Es hätte genauso gut mich treffen können", sagt er. Angesichts des immer größer werdenden Bundestags habe es dringenden Handlungsbedarf gegeben, um den Bürgerinnen und Bürgern entgegenzukommen.
Optimal gelungen sei die Reform nicht, das sehe auch er. Fördermittel stünden Darmstadt und anderen Wahlkreisen ohne Direktmandat nach wie vor genauso zur Verfügung wie allen anderen, sagt Larem. "Aber die Gefahr besteht, dass die an einem vorbeilaufen." In der Vergangenheit sei er im Bundestag auf Fördertöpfe aufmerksam geworden und habe die direkte Verbindung zu seiner Region und möglicherweise geeigneten Projekten herstellen können.
Krämer (Grüne): "Frage der demokratischen Repräsentation"
Dass ganz Südhessen ohne Darmstadt und Groß-Gerau statt mit vier nur noch mit zwei Wahlkreiskandidaten im Bundestag vertreten ist, findet auch Astrid Mannes' und Andreas Larems grüner Herausforderer Krämer "nicht gut", wie er am Montag auf Anfrage erklärt.

"Das ist eine Frage der demokratischen Repräsentation", sagt Krämer. Auch das Problem mit dem Zugang zu Fördermitteln sehe er. Die demokratischen Parteien auf Bundesebene seien nun gefordert, sich damit auseinanderzusetzen. Dem stimmt auch SPD-Kandidat Larem zu: "Der Wählerwille muss abgebildet werden", das gelte auch für die Erststimme.