Gebäude mit gläserner Fassade auf dem Campus Riedberg der Uni Frankfurt

Hessens Verwaltung soll bis 2030 klimaneutral sein. Dafür investiert das Land auch in sogenannte CO2-Kompensationsprojekte im Ausland, doch deren Klimanutzen ist zweifelhaft. Beim Einsparen von Emissionen lässt die Regierung Tempo vermissen.

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Angekündigte Klimaneutralität noch in weiter Ferne

hs 28.05.2024
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Solarenergie in Bangladesch, Kochherde in Ruanda und eine Biogas-Anlage in Nepal - das sind drei der Klima-Projekte, die das Land Hessen seit 2018 unterstützt. Das Land wendet dafür jedes Jahr mehrere hunderttausend Euro an Steuergeld auf. 2021 waren es knapp 660.000 Euro, 2024 soll es eine Dreiviertelmillion sein. Das tut das Land nicht etwa im Rahmen von Entwicklungshilfe, sondern um sich die CO2-Ersparnis aus den Projekten auf die eigene Bilanz anrechnen zu können.

Das funktioniert ähnlich, wenn eine Privatperson eine Flugreise macht und zum Ausgleich Klimaschutz-Zertifikate kauft, um den CO2-Ausstoß auszugleichen. Oder wenn ein Unternehmen in solche Projekte investiert, um seine Produkte dann als "klimaneutral" zu bewerben. Letzteres hat die EU übrigens neuerdings verboten. Begründung: Es führe die Verbraucher in die Irre.

Experten: Klimanutzen bei Zertifikaten überschätzt

Spätestens, seit 2023 mehrere wissenschaftliche Studien zum Thema herauskamen, ist die CO2-Kompensation deutlich in Verruf geraten. Die Studien wiesen nach: Bei den meisten Kompensationsprojekten wird der tatsächliche Klimanutzen stark überschätzt, viele Kompensations-Zertifikate sind komplett wertlos.

Lambert Schneider vom Freiburger Öko-Institut forscht seit Jahren zum Thema. Seine Einschätzung: "Insgesamt ist die Qualität dieser Zertifikate sehr durchwachsen. Hinter den meisten dieser Zertifikate steckt keine einzige Tonne CO2-Einsparung."

Schneider sagt, oft lasse sich die Einsparung nicht unabhängig überprüfen, und es komme zu Doppel-Zählungen der eingesparten Emissionen sowohl für die Bilanz des Gastlands als auch für die Bilanz des Zertifikatekäufers. Oft sei nicht klar, ob das Projekt nicht auch ohne dessen Geld umgesetzt worden wäre.

"Land nimmt Ersatzhandlung vor"

Sven Linow, Professor für Wärmelehre und Umwelttechnik an der Hochschule Darmstadt und der Vorsitzende des wissenschaftlichen Klimabeirats der Landesregierung, hält die hessischen CO2-Kompensationen deshalb für "fragwürdig", wie er sagt. Es handele sich um "eine Ersatzhandlung", die das Land vornehme, "statt das zu tun, was notwendig wäre: nämlich die Emissionen zu minimieren".

"Minimieren, substituieren und kompensieren": Mit dieser dreifachen Strategie verfolge das Land Hessen das selbst gesteckte und im Hessischen Klimagesetz festgeschriebene Ziel, seine Verwaltung bis 2030 "netto-treibhausgasneutral zu organisieren", teilt das Finanzministerium auf hr-Anfrage mit. Vorrangig wolle man den Energiebedarf verringern, dann erneuerbare Energien nutzen, um schließlich die unvermeidbaren Emissionen durch den Erwerb von CO2-Zertifikaten zu kompensieren.

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Damit real kein klimaschädliches CO2 mehr ausgestoßen wird, müsste die Landesverwaltung alle ihre Gebäude mit Erneuerbaren heizen und erneuerbaren Strom nutzen. Außerdem dürften alle Angestellten ihre Dienstfahrten nur noch mit Bahn, ÖPNV oder Elektroautos zurücklegen.

Reale Emissionen wenig verringert

Die tatsächlichen Fortschritte hin zu mehr Klimaneutralität seit dem Beschluss 2009 sind allerdings überschaubar: Laut der neuesten CO2-Bilanz sind die realen Emissionen beim Strom und beim Heizen um gerade einmal gut 20 Prozent gefallen. Dabei macht die Wärmeversorgung der landeseigenen Immobilien wie etwa Hochschulgebäuden dem Papier zufolge mehr als die Hälfte der Treibhausgasemissionen der Landesverwaltung aus.

Statt hier den Ausstoß deutlich zu minimieren, worauf das Land ja den Hauptfokus legen will, gingen die Zahlen in dem Bereich in den vergangenen Jahren nur langsam nach unten. Zwar investierte das Land nach Angaben des Finanzministeriums zwischen 2012 und 2019 rund 160 Millionen Euro in die energetische Sanierung von Gebäuden und verspricht sich davon eine CO2-Verringerung von 250.000 Tonnen - aber eben über einen Zeitraum von 30 Jahren. Ein zweites Sanierungspaket bis 2027 soll sich auf 236 Millionen Euro belaufen und 180.000 Tonnen CO2-Äquivalente einsparen helfen - ebenfalls über drei Jahrzehnte hinweg, was pro Jahr nur 6.000 Tonnen Ersparnis bringt.

Zertifikate machen die Bilanz schöner

Schnellere und größere Minderungsmengen, die sich die jeweilige Landesregierung dann selbst anrechnen kann, verspricht da die Kompensation der eigenen Emissionen mittels CO2-Zertifikaten. So verblüfft das Gesamtergebnis der CO2-Bilanz des Landes von 2021 auch nur kurz: Um 64,8 Prozent habe die Verwaltung ihre Emissionen seit 2009 verringern können. "Unter Berücksichtigung der Marktinstrumente", steht dort allerdings. Sprich: durch den Bezug von Ökostrom aus Norwegen und durch den Kauf von CO2-Kompensations-Zertifikaten.

Wenn man die Zahlen etwas näher anschaut, zeigt sich, dass der Rückgang von 476.223 Tonnen CO2-Äquivalenten im Jahr 2008 auf 167.487 im Jahr 2021 (jeweils unter Abzug von Kompensation und Ökostromeinkauf) hauptsächlich auf diesen beiden Instrumenten beruht. Rechnet man ihren Effekt heraus, lag die Menge der CO2-Emissionen 2021 noch immer bei 357.797 Tonnen. Statt beispielsweise Ökostrom aus Norwegen zu kaufen, hätte das Land vermehrt selbst welchen erzeugen können, dann wäre dem Klima mehr geholfen gewesen.

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Sven Linow vom Klimabeirat der Landesregierung sieht "deshalb die Gefahr, dass diese Kompensationen eben in der aktuellen Legislaturperiode den Eindruck von Tätigkeit erzeugen, aber gleichzeitig die eigentlich notwendigen Entscheidungen und Investitionen nicht stattfinden". Der Wissenschaftler sagt, bis 2030 müssten eigentlich alle Gebäude des Landes klimaneutral beheizt werden, alle Dienstreisen klimaneutral ablaufen - also real, nicht durch Kompensation.

Bis dahin sind es nur noch sechs Jahre. Das Land reduzierte bei der Wärmeversorgung seiner Gebäude den CO2-Ausstoß seit 2008 jedoch lediglich von rund 184.000 Tonnen auf rund 142.000 Tonnen im Jahr 2021. Auch beim eigenen Fuhrpark ging die CO2-Bilanz in dem Zeitraum gerade einmal von rund 38.000 auf rund 29.000 Tonnen zurück. Dass diese letzte Zahl in der Bilanz nicht mehr als Belastung auftaucht, liegt an der Kompensation. Angefallen sind die Emissionen freilich zunächst.

Verkehrsministerium setzt auf Hybridautos - ausgerechnet

Und es ist wahrscheinlich, dass sich der CO2-Ausstoß durch die Dienstwagen der Minister und Ministeriumsmitarbeiter und sonstigen Landesbeschäftigten sogar wieder erhöht: Wirtschafts- und Verkehrsminister Kaweh Mansoori (SPD) verkündete kürzlich, sein Haus wolle die E-Autos wieder abschaffen und stattdessen auf Hybridautos setzen. Diese müsse man nicht umständlich aufladen.

Hybridautos sind auf dem Papier umweltfreundlich, weil sie theoretisch gewisse Strecken mit Batterieantrieb fahren können. In der Praxis fahren sie fast ausschließlich mit klimaschädlichem Kraftstoff.

So kann man dem Land in diesem Punkt wohl ebenso wenig eine Vorbildrolle zugestehen wie bei der überaus schleppenden Nutzung der Dächer der landeseigenen Gebäude für PV-Anlagen. Hier schlummert viel ungenutztes Potenzial. Statt selbst viel mehr Ökostrom zu produzieren, kauft das Land ihn im Ausland ein.

Land verweist auf hohe Qualität-Standards

Womöglich kauft das Land demnächst noch mehr CO2-Zertifikate, um noch mehr Emissionen zu kompensieren. Man wolle diese Praxis trotz aller Einwände beibehalten, teilt das Finanzministerium mit. Die Partner garantierten hohe Qualität-Standards bei der Projektauswahl, die Emissionen würden deshalb in der hessischen Bilanz auch weiterhin als "vollständig kompensiert" gelten.

Das Finanzministerium selbst rechnet vor, dass sich mittels Zertifikat eine Tonne CO2-Äquivalent für rund fünf Euro pro Jahr kompensieren lasse, während man das durch energetische Gebäudesanierung erst mit stolzen 640 Euro erreiche - und das über 30 Jahre hinweg betrachtet. Allerdings habe eine Gebäudesanierung weitere positive Folgen, etwa den Werterhalt und eine Einsparung von Energiekosten.

"Alles andere ist Schönrechnerei"

Aus Sicht des deutschen Klimaforschers Niklas Höhne von der niederländischen Universität Wageningen bringt dieser Ansatz nur der CO2-Bilanz des Landes einen Nutzen: "Zertifikate sind aus meiner Sicht überhaupt keine gute Idee, weder für Staaten noch für Bundesländer noch für Unternehmen."

Seit dem Pariser Klimaschutzabkommen müssten alle Staaten etwas für ihre Klimabilanz tun, kein Land habe überschüssige CO2-Ersparnisse, die es quasi exportieren könne, sagt Höhne: "Wir sind so spät dran im Klimaschutz, dass niemand schnell genug ist, und deshalb hat auch niemand irgendwas zu verkaufen. Wir sind so spät dran, dass man selber seine Emissionen reduzieren muss, alles andere ist Schönrechnerei."

Die Landesregierung beurteilt die Lage rosiger: "Das Ziel einer CO2-neutralen Landesverwaltung bis 2030 ist aus Sicht des Hessischen Finanzministeriums realistisch erreichbar", teilt das Haus von Minister Alexander Lorz (CDU) mit. Auch an der eigenen Vorbildfunktion gebe es nichts zu rütteln. Diese sei schließlich im Hessischen Klimagesetz festgeschrieben.

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