Nächste Runde im hessischen Schulstreit Grüne sehen Genderverbot vor Abi-Prüfung "rechtlich auf wackligen Beinen"
Sternchen, Doppelpunkt und Binnen-I: Wenn in ein paar Tagen das Hessen-Abitur losgeht, sind Gender-Sonderzeichen verboten. Vorher bekommen es die Schulpolitiker des Landtages in einer Sondersitzung mit dem Streitthema zu tun.
Ob Schülerinnen und Schüler oder Schüler*innen: Am nächsten Mittwoch beginnen in Hessen für sie die Abi-Prüfungen. Dann dürfen sie sich beim Pfuschen nicht erwischen lassen – und nicht mit Gender-Sonderzeichen wie dem Sternchen. Wer es trotzdem mit dieser Form geschlechtergerechter Sprache hält, muss zusätzliche Fehlerpunkte in Kauf nehmen, die womöglich die Note drücken.
Was der neue Kultusminister Armin Schwarz (CDU) vor kurzem als eine seiner ersten Amtshandlungen für die Schulen klarstellte, wird noch vor dem Beginn der Prüfungen auch den Landtag beschäftigten.
Die oppositionellen Grünen haben am Donnerstag angekündigt, in einer Sondersitzung des Kultusausschusses das Gender-Verbot in Abschlussprüfungen zum Thema zu machen.
Schülerschaft verunsichert?
Für die Sondersitzung am 16. April, also am Vortag des Abitur-Prüfungsauftaktes, haben die Grünen einen Fragekatalog mit 15 Punkten eingebracht. Denn das Verbot ist nach Ansicht der Abgeordneten Julia Herz, die Mitglied im zuständigen Parlamentsausschuss ist, nicht nur ein irrationaler "Kulturkampf auf dem Rücken der Schüler*innen".
Die Sache stehe auch auf "rechtlich wackligen Beinen“. Das könne die Prüfungen anfechtbar machen.
Die schwarz-rote Landesregierung sei mit dem erst kurz vor den Osterferien erlassenen Verbot zudem schuld an "erheblicher Verunsicherung auf Seiten der betroffenen Schüler*innen in der für sie ohnehin stressigen Prüfungsphase". So hat sich gerade auch die Landesschülervertretung in der Frankfurter Rundschau geäußert, die sich schon vor längerem in "Landeschüler*innenvertretung" umgeschrieben hat.
Suche im Schulgesetz
Das Genderverbot an Schulen sei gar nicht rechtsverbindlich verankert, lautet ein juristischer Haupteinwand der Grünen. Im Schulgesetz stehe davon nichts. Der Verdacht: Schwarz habe die Schulen vielmehr kurz vor Beginn der Osterferien in Form von "Durchführungshinweisen" über das Verbot möglicherweise unzureichend informiert.
In dem Vorgehen des Kultusministers sehen die Grünen, die bis Mitte Januar zehn Jahre lang mit der Union regierten, auch den Vertrauensschutz verletzt, der den Prüflingen zustehe. Schwarz soll in der Sondersitzung Auskunft geben, warum es auf einmal so schnell habe gehen müssen und wie sich Schüler- und Lehrerschaft in der Kürze vorbereiten konnten.
Erklärungen gewünscht
Das Kultusministerium hat nach Meinung der Grünen auch praktische Fragen der Benotung nicht geklärt. So sei offen, ob das wiederholte Verwenden von Gender-Sonderzeichen lediglich einmal pauschal als Wiederholungsfehler zähle oder ob jedes Sonderzeichen einzeln negativ verbucht wird. Schwarz soll auch erklären, ob im mündlichen Abitur das Gendern mit Glottisschlag zum Punktabzug führt.
Dem CDU-Kultusminister werfen die Grünen außerdem vor, sich fälschlicherweise auf den Rat für deutsche Rechtschreibung zu berufen. Das Gremium hatte sich Ende des vergangenen Jahres dagegen ausgesprochen, Sonderzeichen als Mittel geschlechtergerechter Sprache ins amtliche Regelwerk aufzunehmen. Der Rat habe aber gar keine Vorgaben für die Schulpolitik gemacht.
Kultusministerium wehrt sich
Das Kultusministerium bestreitet die Vorwürfe kategorisch. Denn das Verbot ist aus seiner Sicht gar keine Neuerung. Die Verwendung der Gender-Sonderzeichen war demzufolge und entsprechend der Empfehlungen des Rats der deutschen Sprache schon in den Vorjahren ein Fehler. Er sei bloß ausnahmsweise nicht in die Note eingeflossen.
In einer Stellungnahme des Ministeriums heißt es dazu: "Es wurde davon ausgegangen, dass in der belastenden Corona-Zeit mit zeitweisen Schulausfällen nicht alle Schülerinnen und Schüler wissen konnten, wie die Positionierung des Rats für deutsche Rechtschreibung, die im Jahr 2021 ausgiebig stattfand, aussah."
Philologenverband gibt Rückendeckung
Viel zu spät angekündigt zu haben, dass sich die lockere Praxis nun ändere - auch diese Kritik sieht das Ministerium widerlegt. Bereits im vergangenen Jahr hätten die Schulen erfahren, "dass für das Landesabitur 2023 letztmalig die Ausnahmeregelung gilt, dass diese Formulierungen nicht als Fehler gewertet werden". Mit den am 20. März verschickten Hinweisen für das Abitur 2024 seien die Schulen daher "regelgerecht" informiert worden.
Unsicherheiten bei der Bewertung von Fehlern glaubt das Ministerium auch nicht verursacht zu haben. Dass es nicht um ein Genderverbot in mündlichen Prüfungen geht, versteht sich demnach. Schließlich würden ja die amtlichen Regeln der deutschen Rechtschreibung und Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung angewendet.
Regierung hat auch Unterstützer
Anders als die deutlich größere und progressivere Bildungsgewerkschaft GEW, die Bedenken angesichts der Kurzfristigkeit äußerte, steht der Hessische Philologenverband (hphv) als kleinere und traditionell konservative Gewerkschaft in der Genderfrage auf der Seite der Landesregierung - und zwar uneingeschränkt. In einer Antwort auf eine hr-Anfrage schreibt der Vorstand, er begrüße das Genderverbot "inhaltlich wie auch rechtlich". Drohende Nachteile für Prüflinge sehe man nicht.
Dass Gendern beim Abi 2024 nicht mehr unbeanstandet bleibt, ist laut Philologenverband tatsächlich beim Abi 2023 mitgeteilt worden. "Wir sehen keine Verunsicherung. Die Vorgaben sind aus unserer Sicht klar und auch nicht umfangreich", heißt es weiter. Klagen von Lehrern sind demnach auch nicht bekannt.
Ein Wahlversprechen
Hessens CDU-Ministerpräsident Boris Rhein, dem der ehemalige grüne Koalitionspartner in der Sache Populismus vorwirft, hatte das Gender-Verbot bereits im Landtagswahlkampf zum Thema gemacht. Nachdem Rhein die Koalition mit den Grünen beendet und die SPD als Juniorpartnerin gewählt hatte, fand es auch Niederschlag im Koalitionsvertrag.
Das Verbot soll sich demnach neben Schulen und Landesverwaltung trotz der verfassungsmäßig garantierten Freiheit von Wissenschaft und Presse auch auf Hochschulen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erstrecken. In der Landesverwaltung untersagte Rhein Ende März per Dienstanweisung, "verkürzte Formen mit Sonderzeichen wie beispielsweise dem Genderstern, dem Doppelpunkt und dem Binnen-I" zu verwenden.
Der Ministerpräsident hatte bei seiner ersten Regierungserklärung nach der Wiederwahl Anfang dieses Jahres beteuert, er wolle keinen Kulturkampf führen. SPD-Wissenschaftsminister Timon Gremmels bestritt kurz nach Amtsantritt im Interview mit hessenschau.de, Verbote zu planen. Es gehe um eine Klarstellung, damit Rechtssicherheit herrsche. Geschlechtergerecht könne man sich auch ohne Sonderzeichen auf vielfältige Weise ausdrücken – und das zudem verständlicher für Lern-, Hör- und Sehbehinderte.