Regierungserklärung im neuen Landtag Ein Schulterschluss und ein Schlagabtausch
"Trendumkehr", "Renaissance der Realpolitik": So umreißt Hessens CDU-Ministerpräsident Boris Rhein im neuen Landtag die Ziele seiner ebenfalls neuen schwarz-roten Koalition. Die Grünen werfen ihrem Ex-Partner gefährliche Stimmungsmache vor. Auf stürmischen Gegenwind trifft aber vor allem die AfD.
Drei Monate nach der Hessen-Wahl und eine Woche nach der Wiederwahl von Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) sind am Mittwoch im Landtag erstmals die neu formierten Lager von Regierung und Opposition in einer Grundsatzdebatte aufeinander getroffen. Anlass war die erste Regierungserklärung, die Rhein für die schwarz-rote Landesregierung abgab.
Rhein skizzierte die Grundlagen der "christlich-sozialen“ Politik, wie CDU und SPD sie gemäß ihres Koalitionsvertrags in den kommenden Jahren führen wollen. Gleichzeitig stand die teils heftige Diskussion unter dem Eindruck der aktuellen Demonstrationen gegen rechts und die AfD, hervorgerufen durch das Bekanntwerden von Plänen, Migranten massenhaft umzusiedeln.
Das führte zu einem ungewohnten Zusammentreffen von Schulterschluss und Schlagabtausch.
1. Wie sich der Landtag neu sortieren musste
Nie zuvor gab es eine unionsgeführte CDU/SPD-Regierung in Hessen. Aber auch im Lager der Regierungsgegner hat sich einiges geändert. Es war bisher wegen der Sonderrolle der isolierten AfD schon alles andere als geschlossen. Die Partei, die sich selbst als "bürgerlich-konservativ" bezeichnet, aber vom Landesverfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall bewertet wird, durfte nun als Premiere in der Rolle der stärksten Oppositionskraft die erste Entgegnungsrede auf Rheins Vortrag halten.
Noch ein Grund zum Umorientieren: Arbeiteten zuvor SPD und FDP als Gegenpart von Schwarz-Grün vergleichsweise häufig zusammen, ist ein solches Verhältnis zwischen Grünen und Liberalen nicht zu erwarten. FDP-Fraktionschef Stefan Naas betonte ausdrücklich, was angesichts chronischer Abneigung ohnehin klar war: Es werde "keine Koalition in der Opposition“ geben.
2. Worin sich (fast) alle einig waren
Ohne Einschränkung will die FDP aber eine Initiative der Grünen unterstützen. Deren Fraktionschef Mathias Wagner schlug vor, der Landtag solle im Februar als "Zeichen der Demokratie" einen überparteilichen Aufruf zu einer Kundgebung starten.
Es geht um die kürzlich bekannt gewordenen "Remigrationspläne", die AfD-Politiker mit dem Rechtsextremisten Martin Sellner und privaten Unterstützern bei einem Treffen in Potsdam verhandelt haben sollen.
Die derzeit laufenden Demonstrationen erhielten auch die Unterstützung von SPD und CDU. Als erster war Rhein in seiner Regierungserklärung bei diesem Punkt besonders deutlich und heftig geworden. Er sprach von "gefährlichen Vertreibungsphantasien" und einem "Vorgang, der schlimmer nicht sein könne". "Wer so denkt und redet, der will unser Land in den Abgrund stürzen", fügte er hinzu.
3. Wie die AfD an der aufgestockten Brandmauer rüttelte
AfD-Fraktionschef Robert Lambrou fühlte sich unmissverständlich angesprochen. Was er Rhein nach dessen so vehement vorgetragenen Unterstützung der vor allem gegen die AfD gerichteten Kundgebungen vorwarf: Mit den Protesten werde in Wirklichkeit ein Kampf gegen die "bürgerliche Mehrheit" im Land geführt.
Eine tatsächliche Kehrtwende gegen die "Grundübel Massenmigration und Klimapolitik" auch im Bündnis mit der SPD vollziehe der Ministerpräsident nicht. Es zeige sich zwar, "dass die Zeit mit den Grünen ein schwer erträglicher Kompromiss für Sie gewesen sein muss", sagte Lambrou. Rhein fehle es aber "an Entschlusskraft und dem richtigen Koalitionspartner". Mit seinen Angriffen gegen die AfD teilt er laut Lambrou vielmehr das konservative Lager.
4. Was Rhein unter der "Renaissance der Realpolitik" versteht
In seiner Regierungserklärung wiederholte Rhein seine Ankündigung, "Trendumkehr" einzuleiten, weil ein "gefährlicher Cocktail" mehrerer Krisen das Vertrauen in die Demokratie erschüttert habe. "Wir brauchen eine Renaissance der Realpolitik", sagte er.
Zu den Kernpunkten zählte er die Kriminalitätsbekämpfung und die Verringerung "irregulärer Migration". "Wir dürfen keine weiteren Pull-Effekte starten", sagte er zur geplante Einführung von Bezahlkarten und Sachleistungen für Asylbewerber.
Nachdem der Begriff "Klimaschutz" aus dem Titel des zuständigen Ministeriums gestrichen wurde, bekannte sich Rhein unter anderem zu den Klimazielen des Landes. Investitionen wie die in einen Fonds für Wirtschaft und Forschung will er finanzieren, ohne an der Schuldenbremse zu rütteln.
5. Wie sich die SPD zurechtfand
25 Jahre stellt die CDU nun schon ununterbrochen die Ministerpräsidenten. All die Zeit saß die SPD in der Opposition. Nun klatschte sie erstmals wieder anhaltend nach einer Regierungserklärung. Der Einsatz klappte, allerdings stieg die SPD doch vor der Union aus dem Schlussapplaus für Rhein aus.
Ihr neuer Fraktionschef Tobias Eckert kündigte an, die beiden Partner wollten in Zeiten der Verunsicherung "Vernunft und Augenmaß, Zusammenhalt und Ausgleich, Gerechtigkeit und Solidarität" walten lassen. Die Koalition führe den Respekt vor der Leistung der Beschäftigten mit dem vor unternehmerischem Mut zusammen.
6. Wie die Grünen abrechneten ...
CDU/SPD-Koalitionen hätten bislang eher Streit und Stillstand bedeutet, fand Grünen-Fraktionschef Wagner. Rhein fragte er wegen der angekündigten realpolitischen Trendwende: "Wer regiert Hessen eigentlich seit mittlerweile 25 Jahren?". Der Ministerpräsident habe trotz der Erfolge von Schwarz-Grün eine andere Politik gewollt und in der SPD den gewünschten unterwürfigen Partner gefunden. Das solle Rhein dann auch so sagen.
Seine Kritik machte der Grüne neben einem seiner Meinung nach fehlendem Engagement beim Klimaschutz an der angestrebten Verschärfung der Asylpolitik fest. "Sie machen Stimmung, und sie geben Stimmungen nach. Das ist brandgefährlich“, warnte Wagner.
Weil SPD-Landeschefin Nancy Faeser über entsprechende Passagen im Koalitionsvertrag gesagt hatte, beim Lesen schüttele es einen, rief Wagner der SPD-Fraktion zu: "Dann hätte es Euch vielleicht beim Unterschreiben auch schütteln sollen."
7. ... und worüber die Grünen lachten
Das war, als Rhein das angekündigte und umstrittene Verbot von Gender-Sonderzeichen in Schulen, Hochschulen und öffentlich-rechtlichen Einrichtungen wie dem Rundfunk bekräftigte. Das Gelächter kam, als Rhein beteuerte, er wolle "keinen Kulturkampf ums Gendern führen".
Privat könne das auch jeder machen wie er wolle, sagte der CDU-Politiker. Aber Verfasser von Hausarbeiten in Schulen oder Unis dürften nicht schlechter bewertet werden, wenn sie nicht genderten. Auf Zwischenrufe vom Ex-Koalitionspartner, wo es solche Benachteiligungen gebe, antwortete er: "Wir wollen uns doch nicht streiten deswegen."
8. Wen die FDP bedauerte …
Wie die Grünen hielt auch FDP-Fraktionschef Naas der SPD die Demontage ihres Ex-Fraktionschefs Günter Rudolph im Zuge der Regierungsbildung vor. Das sei nicht gerade "christlich-sozial“. "Der alte Kapitän steht ohne Amt da, der Ministerpräsident ohne Vertrauensperson", sagte Naas. Und SPD-Landeschefin Faeser, die Rudolph vergeblich stützen wollte, könne "eigentlich einpacken".
9. … und wem ihr Chef die Flötentöne beibringen wollte
"Glatter und inhaltsleerer geht’s wohl nimmer", lautete Naas‘ Urteil über das Regierungsprogramm. Es fasse wahllos alle Versprechungen von CDU und SPD zusammen.
Beispielhaft führte der FDP-Politiker ein angekündigtes Blockflötenprojekt mit Schulanfängern an und hielt in ironischer Geste eine Flöte in die Luft. Schüler müssten vor allem richtig lesen und schreiben lernen und flächendeckend Informatikunterricht bekommen, sagte Naas. Er respektierte beim Flöten-Auftritt aber den Wunsch von Landtags-Vizepräsident Frank Lortz (CDU), der gesagt hatte: "Ich darf Sie bitten, dass sie diese jetzt nicht gebrauchen."
10. Welche Rolle 007 und das große D im Wort "Hessen" spielten
Ganz spaßbefreit lief die erste große Debatte des neuen Landtages nicht ab. Die Grünen-Kritik, das schwarz-rote Programm sei ein "Hauch von Nichts", weckte den Recherche-Eifer von CDU-Fraktionschefin Ines Claus. Die Fundstelle, legendär, aber unpolitisch: der James-Bond-Film "Diamantenfieber" von 1971. Da spricht Macho 007 vom "bezaubernden Hauch von Nichts, den Sie fast anhaben".
Zwischen Quiz-Sendung und Dadaismus bewegte sich, wie die FDP-Abgeordnete Wiebke Knell den Ministerpräsidenten hopsnahm. "Das H in Hessen steht für Hightech", hatte Rhein wie so oft auch diesmal gesagt. Als er beim nächsten Thema war, rief Knell: "Das D in Hessen steht für Digitalisierung."
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 24.1.2024, 19.30 Uhr
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