Landtagswahl Warum so viele Hessen ihre Kreuze bei der AfD machten
Die Landtagswahl hat der hessischen AfD ihr bisher stärkstes Ergebnis beschert, sie wird zweitstärkste Kraft im Landtag. Mancherorts votierten besonders viele Menschen für die Rechtspopulisten. Was hat sie angetrieben?
Die Alternative für Deutschland (AfD) ist in Hessen zur zweitstärksten Kraft aufgestiegen. Bei der Landtagswahl erreichte die rechtspopulistische und - bundesweit betrachtet - in Teilen rechtsextreme Partei am Sonntag 18,4 Prozent der Stimmen. Damit verbuchte die AfD nach der CDU (+7,6) auch die größten Stimmengewinne (+5,3). Weil Grüne (14,8) und SPD (15,1) deutliche Verluste hinnehmen mussten, zog sie an diesen beiden Parteien vorbei.
In einigen Regionen Hessens überzeugte die AfD besonders viele Wählerinnen und Wähler. Hochburgen von unterschiedlicher Größe gibt es gleich an mehreren Orten in Hessen.
Hochburgen in mittelhessischen Wahlkreisen
Im Wahlkreis Wetterau II erreichte die AfD ihr bestes Resultat mit 27,2 Prozent der Landesstimmen (Zweitstimmen). Ähnlich stark wie in der Wetterau war die AfD auch im Wahlkreis Lahn-Dill I, wo sie 26,9 Prozent und damit ihr zweitbestes Ergebnis einfuhr. In der AfD-Hochburgen-Rangfolge auf Wahlkreis-Ebene liegt Schwalm-Eder II mit 26,2 Prozent auf Platz drei.
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Hochburgen in Städten und Gemeinden
Auch auf der Ebene von Städten und Gemeinden erreichte die AfD einige Ausreißer-Ergebnisse. In der Gemeinde Sinntal (Main-Kinzig) nahe der Landesgrenze zu Unterfranken erreichte sie ihr bestes Landesstimmen-Ergebnis mit 32,7 Prozent. Nicht viel weniger waren es in Steinau an der Straße (Main-Kinzig) mit 32,3 Prozent und in Neustadt (Marburg-Biedenkopf) mit 31,4 Prozent.
Hinzu gewann die Partei besonders in Merenberg in Limburg-Weilburg (+13,9 Prozentpunkte). Den geringsten Gewinn machte sie in Bad Soden im Main-Taunus-Kreis (+1,0).
Bei den Wahlkreisstimmen (Erststimmen) war die AfD in drei Gemeinden sogar stärkste Kraft: in Cornberg im Kreis Hersfeld-Rotenburg (31,8 Prozent), in Frielendorf im Schwalm-Eder-Kreis (29,4 Prozent) und Brachttal im Main-Kinzig-Kreis (29,2 Prozent).
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Mehr AfD-Stimmen in kleinen Orten und von Männern
In der Tendenz auffällig: Hohe Ergebnisse fuhr die AfD insbesondere in kleineren Gemeinden und Kleinstädten ein, während sie in Großstädten nur jeder Zehnte wählte. Auch bei Frauen schnitt sie deutlich schlechter ab, landete mit 14 Prozent hinter Grünen und SPD auf Rang vier.
Ebenso wie bei den älteren Wählern: Von den Über-70-Jährigen erhielt die Partei nur 9 Prozent, während alle anderen Altersgruppen ihr Kreuz am zweithäufigsten bei der AfD machten.
Welche Themen der AfD Stimmen brachten
Die Gießener Politikwissenschaftlerin Dorothée de Nève sieht den Erfolg der AfD vor allem in derzeit politisch pulsierenden Themen begründet. Insbesondere sei es bei der Wahl um die Migrations- und Sicherheitspolitik gegangen, sagte die Professorin von der Justus-Liebig-Universität. Dass die AfD wegen ihres politischen Personals viele Stimmen bekommen habe, glaubt sie nicht. Die Arbeit der AfD-Fraktion im Wiesbadener Landtag und auch deren Spitzenkandidaten in Hessen seien der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt.
Dafür spricht auch eine repräsentative Vorwahl-Erhebung des Wahlforschungsinstituts infratest dimap: 51 Prozent der AfD-Wähler gaben an, die Zuwanderung sei das ausschlaggebende Thema für die Wahlentscheidung gewesen. 18 Prozent nannten die wirtschaftliche Entwicklung.
93 Prozent der AfD-Wähler bereitet demnach Sorgen, dass zu viele fremde Menschen nach Deutschland kämen, 92 Prozent dass die Kriminalität stark zunehme. 91 Prozent befürchten einen Verlust der deutschen Kultur und Sprache.
Unmut über Flüchtlingsunterkunft in Sinntal
Ganz konkret zeigen sich diese Sorgen in der AfD-Hochburg Sinntal im Main-Kinzig-Kreis. Dort beschäftige viele Bürger die geplante Einrichtung einer Unterkunft für 30 Flüchtlinge, erklärt der ehemalige SPD-Bürgermeister und Kreistagsabgeordnete Carsten Ullrich. Wieso die Menschen deshalb die AfD wählten, verstehe er aber nicht, sagt Ullrich. Die Partei biete etwa auf Kreisebene nichts an, um die aktuellen Probleme zu lösen.
Stattdessen habe man wohl der Berliner Ampel-Koalition einen Denkzettel verpassen wollen, meint Ullrich. Dieser Erklärungsansatz war am Wahlsonntag über Parteigrenzen hinweg häufiger zu hören.
Allerdings: In der Infratest-Befragung nannten 54 Prozent der AfD-Wähler Enttäuschung über andere Parteien, 2018 waren es noch 62 Prozent. Aus Überzeugung für die AfD entschieden sich 39 Prozent (+10). Hier hat sich anscheinend so etwas wie eine Stammwählerschaft entwickelt.
AfD-Kernthemen: Migration, Inflation und Heizen
Das Wahlvolk habe die Regierung in Berlin "abgestraft", ist für Lothar Mulch klar. Er ist einer der mittelhessischen Wahlgewinner auf Seiten der AfD. Sein Direktmandat im Lahn-Dill-Kreis gewann er zwar nicht, zieht aber über Listenplatz 24 in den Landtag - ein "sensationellen Ergebnis" für die AfD, mit dem er so nicht gerechnet habe.
Die Kernthemen im Wahlkampf seien für die AfD im Lahn-Dill-Kreis Migration, Inflation und das neue Heizungsgesetz gewesen, sagt Mulch. Dass dies die Bürger beschäftige, habe man auch bei den Gesprächen im Wahlkampf gemerkt.
Lösen lassen sich die genannten Themen auf Landesebene freilich nicht. Den Wählern scheint das jedoch egal zu sein - ebenso wie der deutliche Rechtsruck in der Partei, die der Verfassungsschutz in Hessen als Prüffall betrachtet und im Bund beobachtet.
"Invasion durch Flüchtlinge": AfD-Abgeordneter will weiter "klare Worte" wählen
Mit einem Antrag für einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge hatte Mulch als AfD-Fraktionsvorsitzender erst kürzlich im Kreistag des Lahn-Dill-Kreises für hitzige Diskussionen gesorgt. Mulch hatte unter anderem mit Blick auf die damals aktuellen Bilder von ankommenden Schlauchbooten in Italien gesagt: "Lampedusa ist nur die Landungszone. Das eigentliche Ziel der Invasion ist in den allermeisten Fällen Deutschland." Mulch sprach mehrmals von einem drohenden Kollaps des Kreises.
Für die Forderungen und seine Wortwahl waren Mulch und die AfD fraktionsübergreifend scharf kritisiert worden. Mit Blick auf seine zukünftige politische Arbeit sagte Mulch nun gegenüber dem hr: Er plane nicht, seine Wortwahl im Landtag zu ändern. "Wenn es da klare Worte bedarf, werde ich diese klaren Worte wählen."
Dorf Katzenfurt: 40 Prozent für die AfD
Welche Auswirkungen die Debatte um steigende Flüchtlingszahlen auf die Landtagswahl hatte, zeigt sich im Lahn-Dill-Kreis zum Beispiel besonders in der ländlichen Gemeinde Ehringshausen. Dort wird seit Monaten intensiv über die Aufstellung von Wohncontainern für knapp 60 Flüchtlinge diskutiert. Im 1.900-Einwohner-Dorf Katzenfurt, wo die Container nun trotz Protesten aus der Bevölkerung aufgestellt werden, bekam die AfD sogar 40 Prozent der Stimmen.
Bürgermeister Jürgen Mock (SPD) zeigte sich schockiert über derartige Zahlen und sieht die Bundesregierung in der Pflicht. "Die Regierung in Berlin ist jetzt gefragt, hier Maßnahmen zu ergreifen, damit der Bevölkerung gezeigt wird: Wir kümmern uns um eure Ängste, eure Sorgen", sagte Mock. "Und man muss mit einer geänderten Politik in Berlin und auch in Europa dem Problem Herr werden."
Ähnlich äußerten sich die am Sonntag wiedergewählten CDU-Landräte Jan Weckler aus der Wetterau und Bernd Woide aus Fulda. Beim Thema Migration hätten viele Parteien keine Akzeptanz in der Bevölkerung, sagt etwa Woide, "und das ist dann der Nährboden, auf dem die AfD solche Wahlergebnisse erzielt und punktet."
Viele Stimmen von SPD und FDP
Die Enttäuschung über die Ampel-Parteien belegt auch die Wählerwanderung. Laut der Nachwahlerhebung von infratest dimap gewann die AfD 29.000 Stimmen von der SPD, weitere 24.000 kamen von früheren FDP-Wählern. Außerdem mobilisierte die Partei 46.000 Nichtwähler.
Die AfD bekommt als zweitstärkste Partei in den Reihen des Hessischen Landtags ab Januar deutlich mehr Platz. 28 Sitze umfasst die größte Oppositionspartei nach aktuellem Stand.
AfD kündigt Untersuchungsausschuss zu Corona an
Im hessischen Landtag kündigte die Fraktion dagegen bereits einen Corona-Untersuchungsausschuss an, den sie mit der neuen Fraktionsgröße auch im Alleingang fordern darf. Mit ihr zusammenarbeiten will dagegen weiterhin keine der anderen Parteien.
Ministerpräsident und Wahlgewinner Boris Rhein (CDU) wiederholte mehrfach, dass er mit der AfD nicht sondieren werde - und erteilte damit dem neuerlichen Koalitionsangebot von Spitzenkandidat Robert Lambrou eine Absage.
Anm. d. Red.: In einer früheren Version war die Einwohnerzahl von Ehringshausen-Katzenfurt mit 260 angegeben. Der Ortsteil hat rund 1.900 Einwohner. Wir haben den Fehler korrigiert.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 09.10.2023, 19.30 Uhr
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