Die CDU muss ideenoffen und wenig konfliktscheu regieren
Die Hessen-CDU hat vor den Sondierungsgesprächen betont, dass der nächste Koalitionsvertrag ihre Handschrift tragen müsse. Sie darf das Wahlergebnis aber nicht als Aufforderung missverstehen, weiterzumachen wie bisher. Vielmehr muss sie große Veränderungen vermitteln.
Nach ihrem Sieg bei der Hessen-Wahl wird die CDU den Koalitionsvertrag der nächsten von ihr angeführten Landesregierung in weiten Teilen diktieren können.
Ministerpräsident Boris Rhein und seine Partei müssen sich aber schon fragen: Wurden sie überhaupt gewählt, weil sie für etwas stehen? Oder doch eher aus Protest gegen die Ampel-Regierung im Bund?
Deren Politik wird nicht nur wegen der offenen Streitereien zwischen den Koalitionspartnern nicht geliebt, sondern auch, weil sie den Menschen etwas abverlangt: Veränderungen ihrer Gewohnheiten. Und das in einer Zeit, die nach Corona, angesichts von Kriegen in Europa und Nahost und wegen der Inflation vielen unsicherer erscheint denn je.
Scheu vor der unbequemen Botschaft
Die Ampel hat sich - nicht immer geschickt - auf den Weg gemacht, Versäumnisse aus den Merkel-Jahren bei Klimaschutz, Einwanderungsrecht, Energie-, Verkehrs- und Heizungswende aufzuholen. Nun müssen die Anstrengungen umso heftiger ausfallen. Das bringt Zumutungen mit sich. Dies den Wählerinnen und Wählern klar zu sagen, scheute sich die CDU.
Dafür wurde sie in Hessen mit dem Wahlsieg belohnt. Ihre Botschaft aus dem Wahlkampf, es müsse sich gar nicht so arg viel ändern, ist aber weder richtig noch aufrichtig. "Sanfte Erneuerungen", die Rhein in der Wahlnacht ankündigte, werden nicht ausreichen.
Die CDU wird konkret werden müssen
Im künftigen Regierungsprogramm wird die CDU zum Beispiel beantworten müssen, woher die dringend benötigten Lehrkräfte kommen sollen. Die Forderung der SPD, nicht mehr länger tausende lediglich angestellte Lehrerinnen und Lehrer regelmäßig nach einigen Jahren freizustellen und weniger auf Quereinsteiger zu setzen, ist sinnvoll. Eine Verbeamtung würde Geld kosten, aber schnell die Stellen an den Schulen füllen. Die Bildung unserer Kinder, unser wichtigster Rohstoff, muss das wert sein.
Auch in der Verwaltung, im Öffentlichen Nahverkehr, im Handwerk und in Unternehmen fehlen beängstigend viele Fachkräfte. Um die Wirtschaft anzukurbeln, verspricht die CDU in ihrem Wahlprogramm eine Fachkräfteoffensive. Woher die Menschen kommen sollen, sagt sie nicht.
Willkommenskultur und Arbeitserlaubnis für Geflüchtete
Gleichzeitig leistet es sich das Land, tausende Geflüchtete mit Duldung oder in Erwartung einer Entscheidung im Asylverfahren jahrelang zum Nichtstun zu verdammen. Vernünftiger wäre es, ihnen Arbeit zu erlauben. Dass dies so kommt, kann auch die Hessen-CDU beeinflussen. Es gibt sicher Jobs, die sich mit einem Deutschkurs verbinden und auch ohne Sprachniveau C1 ausführen lassen.
Geflüchtete in regulärer Arbeit könnten die Sozialsysteme entlasten, die Integration fördern und die teils hysterische Debatte um Migration entspannen. Auf deren Welle surfte die AfD mit Rekordzustimmung in den Landtag, ihr Rechtsaußen-Kurs weist in eine Vergangenheit, die es in Zukunft garantiert nicht gibt.
Die CDU darf sich von dieser Sehnsucht nach einer heilen Welt mit vermeintlich einfachen Wahrheiten nicht dazu verführen lassen, im Koalitionsvertrag zu wenig zu wollen. Sie muss den Menschen erklären, dass statt sanfter vielmehr gewaltige Erneuerungen nötig sind, damit Hessen nach vorne kommt. Dass wir den Raubbau an der Natur stoppen müssen. Dass wir für alle sichere Verkehrswege brauchen. Dass wir Neuankömmlinge einladen und nicht vor den Kopf stoßen müssen.
Die CDU muss eine Ideenoffenheit zulassen, die anders als ihr Slogan von der "Technologieoffenheit" tatsächlich Lösungen für die Probleme von heute und morgen liefert und nicht auf irgendwann in der Zukunft verschiebt. Damit nicht nur wir die Freiheit haben, unser Leben sorgenfrei und selbstbestimmt zu gestalten, sondern auch unsere Kinder.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 08.10.2023, 19.30 Uhr
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