Streit um Millionen Euro Nach Hanau legt auch Gießen Einspruch gegen Zensus ein
Im Streit um Einwohnerzahlen geht es in die nächste Runde. Die Stadt Gießen hat Einspruch gegen den Zensus eingelegt, der von deutlich weniger Einwohnern ausgeht. Für die Stadt hat das auf Jahre finanzielle Auswirkungen in Millionenhöhe.
Die Stadt Gießen hat Einspruch gegen die Einwohnerzahl des Zensus 2022 beim Hessischen Statistischen Landesamt (HSL) eingelegt. Das teilte die Stadt am Freitag mit. Sie ist davon überzeugt, dass die hochgerechnete Einwohnerzahl im Zensus deutlich zu niedrig ist.
Demnach hatte der Zensus zum 15. Mai 2022 eine Einwohnerzahl von 87.217 errechnet. Laut städtischem Melderegister lebten zum Stichtag allerdings 93.547 Menschen in der Universitätsstadt - eine Differenz von mehr als 6.300 Personen. "Es ist und bleibt auch nach allen Überprüfungen und Überlegungen völlig unverständlich, wieso unser Melderegister weniger genau sein soll als eine Hochrechnung", sagte Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher (SPD).
Neun Millionen jährlich weniger
Die Stadt fordert Einsicht in die Akten des Zensus. "Unsere vielen Fragen zur Systematik und zum Ablauf des Zensus im konkreten Fall Gießens sind leider nicht plausibel beantwortet worden", teilte Becher dazu mit. Die Stadt möchte sich nun deshalb ein eigenes Bild davon machen, wie es zu dem Ergebnis kam.
Denn die Einwohnerzahl im Zensus hat große Auswirkungen auf die finanzielle Situation der Stadt. Nach ersten Schätzungen der städtischen Kämmerei wird es ab dem Jahr 2026 zu Einbußen von rund 9 Millionen Euro jährlich durch die verringerte amtliche Einwohnerzahl kommen. Bis zur nächsten Volkszählung im Jahr 2032 bedeute das einen hohen zweistelligen Millionenverlust für die Stadt.
"Wir haben erhebliche Zweifel daran, dass die Menschen, die im Zensus als 'nicht existent' gekennzeichnet und damit vom Ergebnis abgezogen wurden, wirklich nicht in Gießen wohnen", sagte Becher. Denn wer zweimal nicht in seiner Wohnung angetroffen wurde und nicht auf Briefe reagierte, wurde nicht als Einwohner gezählt. Das sei in einer Stadt wie Gießen fatal.
Systembedingte Verzerrung?
Gerade in einer Universitätsstadt sei die Fluktuation sehr hoch. "Der Sommer in einer Unistadt ist stets eine Zeit des großen Wechsels. Für eine Befragung über so viele Monate ist das ein methodisches Problem, weil Studierende nach dem Semester wegziehen und die neuen noch nicht da sind", verdeutlichte Becher. Und nicht jeder melde sich sofort um oder neu an. Das alles könne zu einer systembedingten Verzerrung gerade in Städten mit hoher Bevölkerungsbewegung führen.
Ab 2032 soll der Zensus übrigens nicht mehr durch Hochrechnungen, sondern nur noch als sogenannte Registerabfragen geführt werden - wozu auch das Melderegister zählt. Spätestens mit dem nächsten Zensus, hofft Becher, steht dann wieder eine reale Zahl für die wachsende Unistadt Gießen fest. "Das ist aber für uns kein Trost. Wir sind nicht bereit dazu, die nächsten zehn Jahre die Lasten für die Fehler eines systematisch falschen Ergebnisses einer Hochrechnung zu tragen," unterstrich der Oberbürgermeister.
Auch andere Städte betroffen
Gießen stehe diesbezüglich auch mit anderen hessischen Städten wie Fulda, Hanau und Marburg in Austausch, die allesamt überproportional und überraschend viele Einwohner in der Zählung verloren haben. "Wir werden uns über die Ergebnisse unserer Recherchen und unsere Erkenntnisse austauschen und gemeinsame Wege suchen, dagegen vorzugehen", kündigte Becher an.
Die Stadt Hanau hatte schon Anfang Dezember verkündet, Einspruch gegen den Zensus einzulegen. Im September berichtete das HSL, es werde im aktuellen Zensus für Hanau zum Stichtag 15. Mai 2022 genau 93.632 Einwohnerinnen und Einwohner angeben. Laut städtischem Einwohnermeldeamt gab es an jenem Stichtag 100.307 Hanauerinnen und Hanauer. Läge die Einwohnerzahl tatsächlich über der Marke von 100.000, bekäme Hanau als offizielle Großstadt mehr Geld aus dem kommunalen Finanzausgleich und mehr EU-Fördermittel.
Statistikamt verteidigt Methodik
Das HSL hatte in einer Mitteilung im August darauf hingewiesen, dass die Daten aus dem Zensus 2022 genauer seien als die aus dem Melderegister der Städte. Die Methodik sei "umfassend wissenschaftlich geprüft" und in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2018 in der "realitätsgerechten Ermittlung der Bevölkerungszahl" bestätigt worden, hieß es in der Mitteilung.