Nato-Aufgaben, Heimatschutzregiment, Infrastruktur Hessen macht sich Stück für Stück kriegstüchtig
Verteidigung ist in Deutschland Sache des Bunds. Aber auch in Hessen entscheiden Menschen, wie das Land mit einer Kriegsgefahr umgeht und wo es sich für den Ernstfall wappnen sollte.
Was für viele lange höchstens noch eine Erinnerung an den Kalten Krieg war, wird in Hessen langsam wieder konkret. Die Bundeswehr solle ein "Konzept zur Landes- und Bündnisverteidigung" ausarbeiten, ordnete das hessische Sicherheitskabinett im Juni an. Zuvor hatten Vertreter der Landesregierung, Bundeswehr und Sicherheitsbehörden gemeinsam auf dem Stützpunkt der US-Armee in Wiesbaden-Erbenheim getagt.
So arbeiten die Bundeswehr und das Land Hessen gemeinsam daran, das sogenannte Militärstraßengrundnetz zu erneuern, das festlegt, auf welchen Straßen in Hessen Panzer und andere Militärfahrzeuge fahren können.
Die Nato übt, wie in Hessen tausende Soldaten und ihre Fahrzeuge versorgt werden können, wenn sie an die Nato-Ostflanke verlegt werden.
Und beim Landeskommando Hessen der Bundeswehr melden sich scharenweise Interessenten, die sich als Reservisten für die Heimatschutzkompanien des Landes ausbilden lassen wollen, auch wenn sie bisher nichts mit der Bundeswehr zu tun hatten.
Schnellausbildung zu Rekruten
Die "Kriegstüchtigkeit", von der Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im Herbst 2023 sprach, ist an verschiedenen Stellen bemerkbar. Für manche ist sie ganz konkret. Vanessa Cedano aus der Nähe von Wetzlar liegt im Staub auf dem Boden eines Waldstücks auf dem Bundeswehr-Übungsplatz in Speyer (Rheinland-Pfalz) und zielt mit ihrem G36-Gewehr auf eine Sperrholzplatte, die etwa 100 Meter entfernt ist.
Die Schulsekretärin ist eine von den etwa 120 sogenannten Ungedienten, die das Landeskommando Hessen hier zu Reservisten ausbildet. Die Rekruten haben bisher keinerlei Wehrdienst geleistet und sollen im Fall eines Kriegs in der Heimat Gebäude und Infrastruktur bewachen. Dazu werden sie auch an der Waffe ausgebildet.
Kompanien zum Heimatschutz
Hessen ist gerade dabei, das 5. Heimatschutzregiment in Deutschland aufzubauen. Es soll Mitte Oktober in Dienst gestellt werden. Ihm sind dann die Heimatschutzkompanien unterstellt - zu denen auch Vanessa Cedano sich freiwillig melden will, wenn sie mit ihrer Ausbildung als Ungediente fertig ist.
Zwei Module in Theorie und Praxis umfasst der Lehrgang. Die Rekruten lernen im Schnelldurchlauf vom richtigen Grüßen bis zum Schießen mit dem G36 das, was sie hinterher brauchen, um Kasernen oder Pipelines zu bewachen.
"Ich wollte schon mit 16 Jahren zur Bundeswehr", erzählt Vanessa Cedano: "Aber das wurde mir damals ausgeredet - Püppchen gehen doch nicht zum Militär." Als sie dann vom Projekt erfahren habe, in dem auch Menschen ohne militärische Ausbildung für die Heimatschutzkompanien fit gemacht werden sollen, habe sie sich gleich gemeldet.
Solche Fälle gebe es häufiger, sagt Hauptmann Benedikt Krämer vom Landeskommando Hessen. "Wir hatten 500 Interessenten für die 120 Plätze in der Ausbildung." Das Interesse sei mit Beginn des Kriegs in der Ukraine stetig gestiegen. "Mit dem Programm können sie militärisch aktiv sein, aber gleichzeitig ihren zivilen Beruf behalten. Die meisten Reservisten sind höchstens fünf Wochen im Jahr mit Übungen beschäftigt."
Hessen als Gastgeber für Nato-Truppen
Ein mögliches Einsatzgebiet für die Rekruten in der Heimatschutzkompanie wäre die Sicherung von Convoy Support Centern. Die braucht es, wenn größere Züge an Soldaten und Fahrzeugen unterwegs sind. Ein mögliches Szenario dafür: Wenn die Nato viele Truppen an ihre Ostflanke verlegt, fahren manche davon auch durch Hessen.
Frank Kuhn vom Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt beschäftigt sich mit Militärtechnik und Rüstungskontrolle. Er sagt: Wenn es zu so einem Fall kommt - egal, ob zur Abschreckung oder in einem Bündnisfall nach dem Angriff auf einen Nato-Mitgliedsstaat - wäre die Rede nicht mehr nur von 20 Lastwagen. "Eine schwere gepanzerte Kampfbrigade der US Army hat etwa 500 Fahrzeuge, die dann transportiert werden müssten."
Die Bundeswehr wäre dann der Gastgeber für diese Truppen und müsste den Host Nation Support leisten. Heißt: Rastplätze anbieten, auf denen die Fahrzeuge betankt und nötigenfalls repariert werden, und für die Soldaten Verpflegung und Schlafplätze bereitstellen. Auch solche Orte könnten von der Heimatschutzkompanie bewacht werden.
Auswirkungen für die Bevölkerung
Wo genau diese Rastplätze wären und die Routen entlangführten, ist geheim. Aus Militärkreisen heißt es aber: Aller Wahrscheinlichkeit nach würden die Konvois über die Autobahnen fahren, allein schon, weil diese die größten Lasten tragen können.
Das würde an der Zivilbevölkerung nicht spurlos vorbeigehen, fürchtet Gerd Bauz aus Frankfurt. Er ist seit fast 60 Jahren in der Friedensbewegung aktiv. "Selbst wenn der Konvoi nur über die Autobahn und nicht über Nebenstraßen fährt: Wenn das Frankfurter Kreuz länger gesperrt ist, hat das Auswirkungen auf sehr viele Menschen und das gesamte Wirtschaftsleben", sagt er.
Dort, wo am Ende der Rastplatz für die Truppen wäre, könnten die Anwohner das deutlich zu spüren bekommen, glaubt Bauz: "Wenn die in einem Dorf stehen, geht da gar nichts mehr. Dann sagen die: Hier ist jetzt militärisches Gebiet, wir wollen hier niemanden spazieren gehen sehen, ihr bleibt jetzt zu Hause - so muss man sich das schon vorstellen."
Dass ihre Übung bei sommerlichen Temperaturen im Sonnenschein am Ende in deutlich mehr münden kann als ein Abenteuer, ist Vanessa Cedano bewusst, wie sie sagt. Vor ihrer Ausbildung bei der Bundeswehr hat sie noch nie eine Waffe abgefeuert. "Ich hoffe, dass es nie zu diesem Fall kommt", sagt die 31-jährige: "Aber man weiß ja nicht, was die Zukunft bringt."
Engerer Kontakt zwischen Land und Bundeswehr
Der Kontakt zwischen dem Landeskommando Hessen der Bundeswehr und der Landesregierung ist zuletzt intensiver geworden. Das Landeskommando wurde in den Krisenstab des Landes integriert. Im Innenministerium gibt es eine Abteilung, die für Katastrophen- und Heimatschutz zuständig ist. Zum Katastrophenschutz zählen die Hilfsdienste wie das Deutsche Rote Kreuz.
Bei einer Übung Ende August in Wetzlar versuchen Ulrich Neu aus Elz (Limburg-Weilburg) und seine Kollegen, möglichst schnell viele Verletzte zu versorgen. Sie haben innerhalb einer Dreiviertelstunde ein mobiles Krankenhaus aufgebaut, in dem pro Stunde 25 Patienten versorgt werden können. Wenn es zum Beispiel eine Explosion in einem Wohngebiet gibt, soll so das örtliche Krankenhaus entlastet werden.
Ulrich Neu war mit seinem Team vom DRK im Sommer 2021 mehrere Tage lang im rheinland-pfälzischen Ahrtal, um dort nach der massiven Hochwasser-Katastrophe zu helfen. Der Einsatz dort habe ihnen noch lange nachgehangen, sagt der 41-jährige, der seit 25 Jahren beim Roten Kreuz aktiv ist.
Den Gedanken an einen Krieg findet Ulrich Neu noch deutlich bedrückender: "Gerade der Kriegsfall ist etwas, von dem wir alle nicht wissen, was uns erwartet, weil das niemand von uns bisher erlebt hat." Neu spricht von "Gedanken auch zum Ukraine-Krieg, die unsere Generation vorher noch nicht kannte".
Brettspiele mit Bedrohungsszenarien
Ortswechsel. In Hamburg beugt sich Major Kevin S. über einen großen Tisch mit einer Karte der Ostsee und ihrer Anrainerstaaten. Darauf zu sehen: kleine Kärtchen, bunte Klötzchen und Spielzeugschiffe. Kevin S. lebt in Marburg, er war jahrelang in Stadtallendorf stationiert und absolvierte anschließend den Lehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst der Bundeswehr. Dort wird der Führungsnachwuchs der Bundeswehr ausgebildet.
Ein Element der Ausbildung sind Wargames, Kriegsspiele. Die finden nicht im Simulator oder am Computer statt, sondern ganz klassisch auf dem Spielbrett. "Durch das Spiel komme ich auf neue Ideen, auf die ich sonst nicht gekommen wäre", sagt Kevin S.: "Man kann was austesten, und das ist realitätsnäher, als wenn ich mir das nur im Kopf ausdenke." In Hamburg fand Anfang September die WIN24 statt, die inoffizielle Spiele-Meisterschaft der Nato.
Dort stellte Kevin S. das Spiel vor, das er gemeinsam mit Kameraden entwickelt hat: "Hydra". Das Ziel: Möglichst gut mit verschiedenen Problemen in einer Kaserne umgehen und dabei Punkte für Glaubwürdigkeit, Moral und Einsatzbereitschaft der Truppe sammeln. "Uns ist aufgefallen, dass es an einer Sensibilisierung fehlt: Welche Art von Bedrohungen gibt es, was trifft davon schon alles auf mich zu, und wo muss ich nachsteuern?", sagt er.
Wargaming verzeiht Fehlentscheidungen
Uniformträger aus verschiedenen Ländern zu sehen, wie sie an Spieletischen bunte Steinchen hin und herschieben, mag auf den ersten Blick belustigend erscheinen. Für die Bundeswehr sei das aber auch eine Vorbereitung auf den Ernstfall, sagt Konteradmiral Ralf Kuchler, der Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr.
Dazu biete Wargaming einige Vorteile, zählt Kuchler auf: Man benötige keine echten Truppen dafür, es sei daher "sehr ressourcengünstig". Und es erlaube, Entscheidungen zu treffen und "zu sehen, welche Konsequenzen das hat, ohne dass es Auswirkungen auf das physische Leben gibt".
Das Personal und die Ausstattung bei der Bundeswehr, der Zustand der hessischen Straßen und der Katastrophenschutz - all das spielt eine Rolle bei der Frage, wie gut Deutschland und Hessen sich im Ernstfall verteidigen könnten. Aus Sicht von Frank Kuhn vom Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung gibt es zumindest in Sachen Infrastruktur noch einiges zu tun: "Man kann nicht in wenigen Monaten eine neue Brücke bauen, die die nötige Tragfähigkeit hat - das ist etwas, das zeitnah angegangen werden müsste."