"NSU 2.0"-Affäre Beuth versetzt Polizeichef Münch in einstweiligen Ruhestand
Der Polizeichef abgelöst, neue PC-Zugänge für alle Polizisten: Hessens Innenminister Beuth (CDU) zieht Konsequenzen aus den "NSU 2.0"-Drohmails und Datenabfragen in Revieren. Von der "neuen Dimension" der Affäre habe er erst jetzt erfahren.
Hessens Polizeipräsident Udo Münch hat in der Affäre um rechtsextreme Drohmails seinen Posten verloren. Münch habe um seine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand gebeten, teilte Innenminister Peter Beuth (CDU) am Dienstag in Wiesbaden mit. Dem Gesuch habe er stattgegeben. Münch übernehme damit als oberster Polizist Verantwortung für Versäumnisse, "die er nicht alleine zu vertreten hat".
Kurz zuvor war bekannt geworden, dass auch sensible Daten der Berliner Kabarettistin Idil Baydar von einem Rechner eines Polizeireviers in Wiesbaden abgefragt wurden. Baydar wird seit Monaten mit dem Tod bedroht, sie erhielt ebenso wie Linken-Fraktionschefin Janine Wissler und die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz Droh-Mails mit dem Absender "NSU 2.0". Weder die Urheber der Drohungen noch der Abfragen wurden bisher gefasst.
Information nicht weitergeleitet
Beuth äußerte sich am Dienstagnachmittag in einem Statement vor der Presse, ohne Fragen zuzulassen. Nach seiner Darstellung übernahm Münch die Verantwortung dafür, dass der Minister erst vergangene Woche mit mehrmonatiger Verspätung davon erfuhr, dass auch Daten Wisslers bei der Polizei abgerufen worden waren. Zunächst hatte Beuth allein das Landeskriminalamt (LKA) dafür verantwortlich gemacht.
Nun stellt es sich laut dem Minister so dar, dass Münch einräumen musste: Er hatte die Information schon im März vom LKA über eine Videokonferenz und ein Protokoll, ohne sie zu beachten und an den Minister weiterzuleiten. Absicht sei nicht im Spiel gewesen, betonte Beuth. Nach seiner Darstellung gibt es aber noch immer Hinweise, dass auch das LKA ihn nicht ausreichend bei einer solch sensiblen Sache auf dem Laufenden hielt.
Unter Druck
"Die erforderliche Sensibilität wurde nicht erbracht", sagte Beuth. Er betonte aber auch: Die LKA-Ermittler leisteten gute Arbeit, die Kritik beziehe sich einzig auf die "nunmehr offenbar gewordenen Defizite im Bericht- und Meldewesen"
Beuth steht in der Affäre zunehmend unter Druck. Kommende Woche will die Landtagsopposition in einer Sondersitzung des Innenausschusses Antwort auf kritische Fragen.
Neue PC-Regeln
Nachdem er in der vergangenen Woche einen Sonderermittler eingesetzt hatte, will der Innenminister weitere Konsequenzen aus der Affäre ziehen. So sollen alle Polizisten kurzfristig neue IT-Zugangsdaten erhalten. "Wer seine Daten trotzdem weitergibt, muss mit ernsten Konsequenzen rechnen", sagte der Minister und fügte hinzu: Bei den Abfrageregeln werde das Ministerium so "den Resetknopf drücken".
Hintergrund: Bei den Abfragen wurden zwar die jeweiligen Computer identifiziert und auch die eingeloggten Beamten. Die aber behaupteten stets, nicht hinter den Abfragen zu stecken. Unter ihrer Anmeldung hätten auch Kollegen den Rechner genutzt - das sei in manchen Revieren gängige Praxis. Die zum Abfragezeitpunkt eingeloggten Polizisten werden als Zeugen geführt, nicht als Beschuldigte.
Beuth: "Ungeheuerlich"
Nach Beuths Darstellung hat er auch erst vergangene Woche Kenntnis vom dritten inzwischen bekannten Abfragefall erhalten, offenbar dem der Kabarettistin Baydar, die ebenfalls Todesdrohungen erhielt. Ihren Namen nannte Beuth nicht. Bereits im März 2019 waren demnach von einem anderen Wiesbadener Revier Daten abgefragt worden.
Der Verdacht, dass nunmehr in drei Fällen womöglich ein Zusammenhang zu erfolgten Drohungen und Datenabfragen in polizeilichen Systemen bestehen könnte, lastet schwer. Diese neue Dimension der Ermittlungen wurde mir erst am vergangenen Mittwoch berichtet. Zitat von Innenminister Peter Beuth (CDU)Zitat Ende
Auch hier werde mit Nachdruck ermittelt. Ergebnisse gibt es aber auch in diesem Fall nicht. "Die unsäglichen Drohungen sind für sich genommen schon besonders schwerwiegend", sagte Beuth. "Unsäglich" sei es aber, dass auch in diesem Fall Datenabfrage und Bedrohung im Zusammenhang stehen könnten.
SPD: "Akt der Verzweiflung"
Die Opposition im Landtag überzeugte Beuths Handelns nicht. Als "Akt der politischen Verzweiflung" bewertete Günter Rudolph, Parlamantarischer Geschäftsführer der SPD, den Rücktritt des Landespolizeichefs. Rudolph glaubt nach eigenen Angaben der Darstellung des Ministers nicht, Münch habe die brisante Information über die Polizeiabfrage unterschätzt, vergessen oder ignoriert. "Der Verdacht liegt nahe, dass der treue Beamte Münch sich opfern muss, um den verantwortlichen Innenminister in der Drohbrief-Affäre zu schützen."
Auch die Linke sprach von einem "Bauernopfer". Ihr Innenexperte Hermann Schaus warf Beuth "eine jahrelange Linie des Versagens im Kampf gegen rechte Gewalt und der Aufklärung von Skandalen" vor. Nun aber könne der Minister sich nicht länger wegducken.
Grüne: Jetzt neu anfangen
Konsequent ist der Rücktritt dagegen nach Einschätzung der ebenfalls oppositionellen FDP. Jetzt müssten sich die Sicherheitsbehörden auf ihre eigentliche Aufgabe besinnen, forderte ihr Innenpolitischer Sprecher Stefan Müller: "Es muss alles getan werden, um mögliche rechtsextreme Netzwerke in der hessischen Polizei offenzulegen.
Einen Neuanfang in den Ermittlungen zur Drohmail-Affäre versprechen sich die Grünen als Koalitionspartner der CDU von der Personalie. Die missbräuchlichen Abfragen seien besorgniserregend, sagte die Innenexpertin Eva Goldbach. "Wir müssen künftig in der Lage sein, solchen Angriffen auf die Integrität öffentlicher Personen einen Riegel vorzuschieben", befand sie über die drohenden Mails. Der stellvertretende CDU-Fraktionschef Alexander Bauer bezeichnete den Rücktritt als "ehrenhafte Entscheidung von Udo Münsch". Er übernehme damit persönliche Verantwortung für Versäumnisse im Zusammenhang mit der Wiedergabe bei den Ermittlungen.
"Unerwartet" und verfrüht kommt die Ablösung Münchs dagegen nach Meinung von Klaus Herrmann (AfD). Demnach hätte der Minister erst die Arbeit des Sonderermittlers abwarten sollen. Der müsse unter anderem klären, "ob es bewusste Verzögerungen gab".
Bedrohte: Nicht gerade vertrauensbildend
Im ARD-Mittagsmagazin kritisierte Baydar am Dienstag unterdessen scharf, dass sie von der Abfrage erst am Montag durch einen Journalisten erfuhr und die Polizei sie bis heute nicht informiert habe. "Das trägt auch nicht gerade zur Vertrauensbildung bei", sagte sie. In dieser "obskuren Situation" wisse sie nicht einmal, "ob die Polizei das aufklärt, wenn mir etwas passiert". Baydar sprach von einem "ziemlichen Durcheinander" bei der Polizei.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt teilte mit, es gebe noch weitere Bedrohungen. Sie betonte am Dienstag, dass auch nach der Einsetzung eines Sondererermittlers durch Beuth ausschließlich sie selbst mit der Leitung der Ermittlungen befasst sei. Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) habe sich am Montag über den Stand im Ermittlungskomplex "Drohmails" unterrichten lassen.
Die Ermittlungen seien seit August 2018 unter Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ohne Unterlass geführt worden. Die Staatsschutzabteilung sei Anfang Januar und Anfang Mai 2019 wegen der besonderen Bedeutung der Verfahren personell verstärkt worden. Über den Verfahrensstand will die Behörde derzeit nichts sagen.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 14.07.2020, 19.30 Uhr