Stichwahl um Präsidentschaft Warum so viele Türken in Hessen Erdoğan wählen

Rund 76.000 Menschen haben in Hessen bei der Stichwahl zum türkischen Präsidenten ihre Stimme abgegeben. Ein Darmstädter Politikwissenschaftler erklärt im Interview, warum diese Wahl für viele so wichtig ist - und der Autokrat Erdoğan besondere Zuneigung erfährt.

Vier Wahlzettel liegen auf einem Tisch, darauf je Name und Foto der beiden Kandidaten und Stempel zum Abstimmen
Auf dem Wahlzettel für die türkische Präsidentschaftswahl stehen Amtsinhaber Erdogan und seinem Herausforderer Kilicdaroglu. Bild © picture-alliance/dpa
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Am Sonntag geht es bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei in die nächste Runde: Die Stichwahl soll entscheiden, ob Recep Tayyip Erdoğan (AKP) im Amt bleibt oder von seinem Herausforder Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) abgelöst wird.

Wahlberechtigte in Hessen konnten bis Mittwochabend ihre Stimme im Konsulat in Frankfurt oder in der Außenstelle in Kassel abgeben. Das Interesse hat nach Angaben des Konsulats im Vergleich zum ersten Wahlgang nicht nachgelassen: Insgesamt hätten über 76.000 der rund 150.000 Wahlberechtigten eine Stimme abgegeben, davon über 65.000 in Frankfurt und knapp 11.000 in Kassel.

Politikwissenschaftler Christian Stecker von der Technischen Universität Darmstadt erklärt im hr-Interview, welche Motivationen und Gründe bei der Wahl für in Hessen lebenden Menschen mit türkischem Pass eine Rolle spielen.

hessenschau.de: Etwas mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten hat hier in Hessen eine Stimme abgegeben - sowohl im ersten als auch in dieser Woche im zweiten Wahlgang. Wie beurteilen Sie diese Wahlbeteiligung?

Christian Stecker: Das ist schon bemerkenswert: Es ist ja nicht so, dass man wie bei einer Bundestagswahl mal eben bei der Schule um die Ecke seine Stimme abgibt. Man muss sich vielleicht einen Tag Urlaub nehmen, in eine entferntere Stadt reisen und im Konsulat seine Stimme abgeben. Vor dem Hintergrund sind die Zahlen nochmal beeindruckender.

Christian Stecker
Christian Stecker ist Professor an der Technischen Universität Darmstadt. Bild © TU Darmstadt

hessenschau.de: Woher kommt dieses Interesse, für die Türkei zur Wahl zu gehen - ohne dort zu leben?

Stecker: Das hat zum einen damit zu tun, dass man sich doch sehr stark mit der Herkunftsgesellschaft identifiziert. Und die Wahl ist natürlich knapp: Es hat genauso einen Mobilisierungseffekt, wenn bei einer Bundestagswahl zwei Parteien sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern.

Die Wahl ist auch von Erdoğan als Schicksalswahl geframed worden. Darüber hat er es geschafft, die Diaspora zu mobilisieren.

hessenschau.de: Und die hat in Hessen, aber auch in ganz Deutschland, mehrheitlich für ihn gestimmt. In der Türkei war es deutlich knapper zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu.

Stecker: Eine wichtige Begründung für diese Abweichung ist, dass die Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind, kein Querschnitt der türkischen Bevölkerung waren. Sie kamen eher aus dem anatolischen Kernland, was etwas ärmer und vor allen Dingen auch religiös-konservativer war. Diese Gruppe ist insgesamt eher konservativen Parteien wie Erdoğans AKP zugeneigt.

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Auszählungsergebnisse in Hessen

Die Wahlergebnisse des ersten Wahlgangs laut Statista mit Berufung auf die türkische Nachrichtenagentur Anadolu:

  • Kassel: 71 Prozent für Erdoğan (AKP), 27 Prozent für Kılıçdaroğlu (CHP)
  • Frankfurt: 60 Prozent für Erdoğan (AKP), 38 Prozent für Kılıçdaroğlu (CHP)
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hessenschau.de: Es wird oft gesagt, die Menschen genießen hier die Freiheit und wählen für die Türkei Unfreiheit. Ist es zu vereinfacht, das so zu sehen?

Stecker: Das ist sicherlich Teil der Wahrheit und das sollte uns nicht weniger beunruhigen als die Stimmanteile für die AfD. Das ist schon eine Hausnummer, wenn 65 Prozent der hier, in einer freien Gesellschaft lebenden Menschen letztlich für jemanden stimmen, der Medien gleichschaltet und Oppositionelle ins Gefängnis wirft.

hessenschau.de: Und der andere Teil?

Stecker: Sicherlich spielen auch Diskriminierungserfahrungen eine Rolle. Wenn sich auch in der zweiten oder dritten Generation hier lebende Türken noch nicht von der Aufnahmegesellschaft anerkannt fühlen, kann das dazu führen, dass sie sich auf die Türkei zurückbesinnen - und letztlich auf diesen autoritären Führer.

Damit hat Erdoğan auch Wahlkampf gemacht: Mit diesem Narrativ, dass die Menschen im Ausland nicht hinreichend Anerkennung erfahren. Und dass er dann als nationaler Führer der Türken für sie kämpft.

hessenschau.de: Was sagt das über die Politik bei uns aus?

Stecker: Einige würden da argumentieren, dass es auch ein Denkzettel für die deutsche Politik ist. Man kann natürlich sagen, dass das auf Integrationsdefizite hinweist. Dass wir es offensichtlich nicht geschafft haben, die Früchte einer liberalen Gesellschaft zu vermitteln und es vielleicht nicht gelungen ist, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie hier vollständig willkommen sind.

Aber man muss auch sagen: Sie haben sich frei entschieden, für Erdoğan zu stimmen. Man muss anerkennen, dass viele Menschen, die hier leben, die Ansichten von Erdoğan teilen und deswegen für ihn gestimmt haben - und das auch in der Stichwahl getan haben werden.

hessenschau.de: Geht es dabei auch um Identifikation?

Stecker: Wir wissen aus den Befragungen, dass sich die Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei sowohl mit Deutschland als auch mit der Türkei identifizieren. Und wir wissen, dass die Ansichten in Hinblick auf Nationalismus und Fundamentalismus etwas stärker ausgeprägt sind als bei anderen Einwanderungsgruppen.

hessenschau.de: Woran liegt das?

Stecker: Die Menschen haben bestimmte Ansichten und Normen aus ihrem Herkunftsland übernommen, hier mit hergebracht, geben das teils auch an ihre Nachfahren weiter. Außerdem werden weiterhin sehr viele türkische Medien konsumiert, die von Erdoğan weitgehend gleichgeschaltet wurden.

Und dann ist es letztlich eine typische Erklärung des Wahlverhaltens: Sehr, sehr viele Menschen teilen einfach die Politik von Erdoğan.

hessenschau.de: Gibt es da bestimmte Inhalte, die eine besondere Rolle bei der Wahlentscheidung spielen?

Stecker: Wir haben leider eine sehr schlechte Datenlage, um wirklich verstehen zu können, was die Wählerinnen und Wähler umtreibt. Bei deutschen Bundestagswahlen haben wir Stichproben von 1.000 bis 2.000 Befragten und hier müssen wir auf Basis von Befragungen argumentieren, die nur rund 200 türkischstämmige Personen einschließen.

Dennoch kann man feststellen: Viele Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland sagen, dass es eine Schicksalswahl ist, sowohl ökonomisch als auch politisch.

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Zur Person

Christian Stecker beschäftigt sich insbesondere mit dem Vergleich politischer Systeme und Wahlen. Er ist außerdem an einem Forschungsprojekt des Deutschen Zentrums für Integration und Migration (DeZIM) zu politischen Einstellungen und dem Wahlverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund beteiligt.

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hessenschau.de: Hat sich die Stimmung nach dem ersten Wahlgang Ihrer Einschätzung nach denn jetzt noch mal verändert?

Stecker: Ich würde mutmaßen, dass es die Community noch einmal stärker polarisiert, weil es jetzt so knapp ist. Ich denke, dass es insbesondere bei Erdoğan-Anhängern nochmal einen Mobilisierungseffekt hatte, wenn der Sieg vor Augen so nah erscheint.

hessenschau.de: Wie können die möglichen Ausgänge der Wahl sich für die Menschen hier auswirken?

Stecker: Das ist schwer zu sagen. Die hier lebende, türkischstämmige Gesellschaft ist nach dem knappen Wahlergebnis im ersten Durchlauf ohnehin sehr polarisiert.

Was wir wissen, ist: Für viele Menschen, die in der Türkei unterdrückt werden - seien es jüngere Menschen, seien es Oppositionelle, Journalisten, Rechtsanwälte - ist es ihre letzte Hoffnung, dass die Türkei noch einen anderen Pfad beschreitet.

Diese Hoffnung würde zerstört, wenn Erdoğan nochmal gewinnt - wonach es aussieht. Das könnte zu einem größeren Exodus aus der Türkei führen, der dann auch Deutschland erreicht.

Das Gespräch führte Pia Stenner.

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Sendung: hr-iNFO, 26.05.2023, 9.20 Uhr

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Quelle: hessenschau.de