Streit um Einwohnerzahl Hanau legt Widerspruch gegen Zensus ein: "Die Zahl ist falsch!"
Hanau widerspricht den Zensus-Ergebnissen und fordert Akteneinsicht. Es geht um 100 Millionen Euro und den Status als Großstadt. Oberbürgermeister Kaminsky will notfalls klagen – oder alle Bürger direkt befragen.
Spätestens wenn es um die Finanzen seiner Stadt geht, wird Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) hellhörig. Kein Wunder: Ist er doch als Stadtkämmerer für eben jene zuständig.
Im Streit mit dem Hessischen Statistischen Landesamt (HSL) geht es nach Kaminskys Schätzung um rund 100 Millionen Euro. Deshalb will er auch nicht lockerlassen. "Wir bleiben hartnäckig", sagte er am Donnerstag mit Inbrunst.
Es geht um den Zensus des HSL und die Frage: Wie werden Einwohnerzahlen erhoben? Im September berichtete das HSL, es werde im aktuellen Zensus für Hanau zum Stichtag 15. Mai 2022 genau 93.632 Einwohnerinnen und Einwohner angeben.
"Die Zahl ist falsch", betont Kaminsky. Laut städtischem Einwohnermeldeamt gab es an jenem Stichtag 100.307 Hanauerinnen und Hanauer. Läge die Einwohnerzahl tatsächlich über der Marke von 100.000, bekäme Hanau als offizielle Großstadt mehr Geld aus dem kommunalen Finanzausgleich und mehr EU-Fördermittel.
Fragenkatalog blieb unbeantwortet
Anfang Oktober schickte die Stadt deshalb einen Fragenkatalog ans Statistische Landesamt: 29 Fragen, mit denen sie geklärt haben wollte, wie genau das Landesamt auf seine Zahlen komme. Aussagekräftige Antworten darauf habe es nicht gegeben, sagt Bürgermeister Max Bieri (SPD): "Bis heute können wir die Zahlen nicht nachvollziehen."
Mitte November erhielt die Stadt den amtlichen Bescheid des HSL, in dem weiterhin von 93.632 in Hanau lebenden Menschen die Rede ist. Gegen diesen Bescheid legte die Stadt am Donnerstag Widerspruch ein, wie Kaminsky, Bieri und Stadträtin Isabelle Hemsley (CDU) erläuterten.
"Schwer nachzuvollziehende Schätzungen"
Um ihre Argumentation zu stützen, hat sich die Stadt mit Rainer Schnell von der City University London einen Experten für Empirische Sozialforschung ins Boot geholt, der in die Zensus-Kritik am Donnerstag einstimmte: Der ganze Vorgang sei "nur schwer nachzuvollziehen".
Das Statistische Landesamt führt für seinen Zensus stichprobenartige Befragungen in Kommunen durch. Es schaut unter anderem, wie viele Menschen es an einer Anschrift antrifft. Die dabei erhobenen Zahlen werden hochgerechnet - wie genau, ist unklar. "Über diese Schätzungen wissen wir nichts", meinte Bürgermeister Bieri: "Das ist ein undurchsichtiges System."
Auch Fulda, Gießen und Marburg betroffen
Bieri erläuterte das an einem Beispiel: So sei aus den Aufzeichnungen des HSL bekannt, dass es an einer Anschrift im Hanauer Stadtgebiet, an der es 59 gemeldete Menschen erwartete, keinen einzigen antraf. Ob diese Anschrift nochmals überprüft wurde, ob das HSL davon ausgeht, dass dort wirklich niemand wohnt, und ob es deshalb bei vergleichbaren Wohneinheiten ebenfalls von null Bewohnern ausgeht, "können wir bis heute nicht nachvollziehen", kritisiert Bieri: "Uns wurde ein Erläuterungsblatt angekündigt, das aber keine Erläuterungen enthält."
Nach Aussage von Bieri gehört Hanau bundesweit zu den Kommunen mit den größten Abweichungen. In Hessen haben mit Fulda, Gießen und Marburg drei weitere Städte ähnlich große Abweichungen. Auffällig: Alle vier sind sogenannte Sonderstatusstädte.
"Hier könnte ein Fehler in einer Formel bestehen", mutmaßt der gelernte Mathematiker und Informatiker Bieri. "Wir gehen diesen Weg nicht nur für uns, sondern auch für andere Kommunen", ergänzte Stadträtin Hemsley.
Stadt will klagen
Brisant ist die Abweichung aber vor allem für Hanau: Denn daran hängt die Frage, ob die Stadt die für eine Großstadt notwendige Marke von 100.000 Einwohnern geknackt hat oder nicht. "Das ist ein Eingriff in die Finanzwirtschaft der Stadt", so Oberbürgermeister Kaminsky. Schließlich sei die gesamte Finanzplanung nach den bislang angenommen Zahlen der Meldestatistik aufgestellt worden.
Als Großstadt habe Hanau weniger Zeit für den kommunalen Wärmeplan und sei verpflichtet, eine eigene Berufsfeuerwehr aufzustellen - zwei Bereiche, in die die Stadt bereits viel investiert habe, führte Kaminsky aus. Mit dem Widerspruch fordert die Stadt erneut Akteneinsicht.
Sollte das Statistische Landesamt den Widerspruch nicht akzeptieren, will die Stadt vor dem Verwaltungsgericht klagen. Innerhalb der kommenden drei Monaten sollte es hierzu eine Entscheidung geben. Unterdessen erklärt sich Oberbürgermeister Kaminsky zu einer außergewöhnlichen Maßnahme bereit: "Notfalls wären wir dazu bereit, jeden einzelnen Bürger befragen zu lassen."