"Wir hoffen, dass die Demokratie gewinnt" Türkei-Wahl: So begründen drei Hessinnen ihre Wahlentscheidung
Wer bei der Wahl am Sonntag in der Türkei gewinnt, das entscheiden auch die Hessinnen und Hessen mit türkischem Pass. Drei Frauen über Kopftuch, Heimat und wem sie ihre Stimme gegeben haben.
Ein viel zitierter Satz des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan lautet: "Die Demokratie ist nur ein Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind."
Seit 20 Jahre lenkt Erdogan den Zug nun schon. Ob das weiterhin der Fall sein wird, das entscheiden auch rund 150.000 Hessen und Hessinnen, die bis Dienstag in Frankfurt und Kassel wählen konnten. Viele sind in Deutschland geboren, haben aber einen türkischen Pass.
Schaut man sich die Bertelsmannstudie zum Zustand der Demokratie an, dann ist dieser türkische Zug mittlerweile in einer "gemäßigten Autokratie" angelangt. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht das Land nur noch auf Platz 165 von 180 Ländern, der Wert der türkischen Währung Lira ist auf einem Rekordtief.
Dass das was in der Türkei passiert, auch Auswirkung bis nach Hessen haben kann, zeigt dass zwei von drei Frauen, die mit dem hr über ihre Wahlentscheidung sprachen, um Anonymität baten, weil sie negative Folgen für sich und ihre Familien fürchten.
Zilan: So kann es nicht weitergehen
Zilan wurde in Deutschand geboren und wuchs in einem kleinen Dorf in Mittelhessen aus. Für ihre Mitschüler war sie "die Türkin", in der Türkei wurden ihre Eltern als Kurden verfolgt. Sie ist 27 Jahre alt und studiert in Kassel.
"Meine Familie ist nicht freiwillig nach Deutschland gekommen", sagt Zilan, anders als in anderen Familien, die zum Arbeiten aus der Türkei nach Deutschland kamen, habe ihre Familie vor politischer Verfolgung flüchten müssen. Als Deutsche und Kurdin begleiten sie die Konflikte in der Türkei schon ein Leben lang: "Meine Identität wird in der Türkei nicht anerkannt, in Deutschland bist du dann die Türkin, man ist nirgends zuhause", sagt sie.
Mit sechs Jahren erhielt Zilan zur türkischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft, sie kann damit in beiden Ländern wählen. Zilan heißt eigentlich anders. Weil sie Repressalien befürchtet, will sie ihren richtigen Namen hier nicht lesen. Angehörige ihrer Familie in der Türkei können nach ihren Angaben nicht ausreisen, ihre Familie in Deutschland müsse damit rechnen, bei der Einreise in die Türkei Probleme zu bekommen, sagt sie.
Zilan hat gegen Erdogan gestimmt und für den Gegenkandidaten Kemal Kilicdaroglu von der CHP. Aber eigentlich habe sie für die prokurdische HDP stimmen wollen. Die HDP hatte aber zur Wahl von Kilicdaroglu aufgerufen und keinen eigenen Kandidaten aufgestellt - auch weil der Partei ein Verbotsverfahren droht.
"Die AKP von Erdogan nutzt den Kriegskurs gegen die Kurden, um von den eigentlichen Problemen abzulenken", sagt Zilan. Als sie das letzte Mal aus der Türkei ausreiste, habe sie eine Strafe wegen eines angeblichen Verkehrsdelikt zahlen sollen. Dabei sei ist zu der fraglichen Zeit gar nicht in der Türkei gewesen. "Ein kurdischer Name reicht schon, um Schikane zu erleben", sagt Zilan.
"Egal, wer an die Macht kommt, es kann so nicht weitergehen", sagt sie. Sie sieht auch den Kandidaten Kilicdaroglu kritisch. Er sei nicht der Sozialdemokrat als der er sich verkaufe.
Zilan engagiert sich in Deutschland für kurdische Interesse, am Wochenende wird sie die Wahl mit Freunden verfolgen. Informationen bekommen sie durch Kontakte in der Türkei. Auf türkische Medien vertraut sie nicht: "Egal welcher Nachrichtensender, er bringt immer eine Ideologie mit", sagt sie. "Wir hoffen darauf, dass die Demokratie gewinnt", sagt Zilan.
Filiz Ülker: "Erdogan vertritt meine Interessen"
Filiz Ülker ist 46 Jahre alt, Hausfrau und engagiert sich in der Ditib-Gemeinde in Kassel.
Filiz Ülker hat sich für das Gespräch mit dem hr gut vorbereitet: Auf vier Seiten hat sie notiert, warum sie bei der Türkei-Wahl für den derzeitigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gestimmt habe.
Ülker hat einen türkischen Pass, die Türkei sei ihr Vaterland, sagt sie, sie würde den Pass nicht abgeben, um einen deutschen zu erhalten. Aber sie fühle sich weder nur als Deutsche noch als Türkin, mehr von beidem etwas.
Der wichtigste Punkt auf Ülkers Zetteln: Das Kopftuch. Ülker ist in einer Ditib-Gemeinde in Kassel aktiv, sie betet fünf Mal am Tag und trägt ein Kopftuch. "Erdogan vertritt meine Interessen", sagt Ülker. Sie verweist darauf, dass es Erdogan war, der das Kopftuchverbot für Studentinnen und im Öffentlichen Dienst aufhob. "Das Kopftuchverbot war ein Trauma", sagt Ülker.
Ülkers Tochter studiert in Frankfurt, sie hat einen deutschen Pass und trage kein Kopftuch. Das sei ihre Entscheidung, sagt die Mutter. Doch der Koran verlange, das die Frau sich bedecke und die Türkei sei ein muslimisches Land, sagt sie.
Ülker befürchtet, dass bei einer Niederlage Erdogans, das Tragen des Kopftuches verboten werden könnte. CHP-Kandidat Kilicdaroglu hatte allerdings versichert, dass er das Kopftuchtragen gesetzlich absichern wolle.
Erdogan habe die Türkei in ein fortschrittliches Land verwandelt, sagt sie. Er habe die Infrastruktur verbessert, Schulen und Krankenhäuser gebaut, die Rüstungsindustrie floriere, er unterstütze Witwen. "Das Highlight dieses Jahres war ein türkische E-Auto", sagt Ülker. Und: "Die Türkei ist im Kommen".
Ülker informiert sich über den türkischen Staatssender TRT, den die Süddeutsche Zeitung einmal "Erdogans Megafon" nannte, weil er vor allem Erdogans Positionen verbreitet und auch viele Türken im Ausland erreicht.
Beim Thema Demokratie und Pressefreiheit misst Ülker mit zweierlei Maß: Dass Journalisten in Deutschland Bundeskanzler Scholz kritisieren dürfen, in der Türkei Journalisten für Kritik an Erdogan aber ins Gefängnis kommen, empfindet sie nicht als Widerspruch: In der Türkei würden Journalisten hetzen und zu Revolten aufrufen. In der Türkei gebe es anders als in Deutschland "Anschläge, Hetze und Aufstände", sagt Ülker, "Natürlich bleibt die Demokratie da auf der Strecke".
Wenn Ülker in Deutschland wählen könnte, würde sie die CDU wählen, sagt sie. Angela Merkel habe sie immer gut gefunden.
Ayshe: "Viele, die sich kritisch äußern, landen im Gefängnis"
Ayshe (Name geändert), 27, arbeitet seit zwei Jahren als Juristin in Frankfurt
"Es ist unfair, dass Menschen, die im Ausland leben, wählen können", sagt Ayshe. Denn sie müssten die Konsequenzen weniger tragen. Ayshe lebt seit zwei Jahren in Frankfurt und arbeitet als Juristin. Hier gab sie auch ihre Stimme gegen Erdogan ab.
Die Wirtschaft in der Türkei sei kaputt, der schwache Kurs der Lira und die hohe Inflation bringe sogar Menschen wie ihre Eltern in finanzielle Bedrängnis, die als Lehrerin und Anwalt eigentlich gute Jobs hätten.
Auch Ayshes Name wurde von der Redaktion geändert. Sie befürchtet, dass sie als Gegnerin Erdogans bei einer Reise in die Türkei Probleme bekommen könnte. Als Anwältin habe sie für Journalisten und andere von Repression betroffenen Menschen gearbeitet, sagt sie.
Die meisten seien im Gefängnis gewesen. Das treffe aber nicht nur Journalisten: "Viele, die sich kritisch über Erdogan äußern, landen im Gefängnis", sagt Ayshe. "Die Menschen zensieren sich deswegen selbst".
Ayshe sorgt sich auch um die rechtliche Situation der Frauen in der Türkei. "Wenn Frauen belästigt werden, wissen sie, die Männer kommen damit durch, es wird nicht verfolgt."
Die Situation der Frauen habe sich unter Erdogan verschlechtert. "In vielen Bereichen gibt es in der Türkei ein Klima der Angst." Am Ende habe Erdogan über Jahre ein "Regime aufgebaut, das für ihn funktioniert", sagt Ayshe.
Sendung: hr-fernsehen, 12.05.2023, 19.30 Uhr
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