Gegen Unbekannt Verfassungsschutz stellt Strafanzeige wegen geleakter NSU-Berichte
Wer hat Jan Böhmermann die hessischen NSU-Geheimberichte gegeben? Der Verfassungsschutz hat Anzeige gegen Unbekannt gestellt. Die veröffentlichten Papiere zeichnen kein gutes Bild von der Behörde.
Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) will, dass das hessische Landeskriminalamt (LKA) herausfindet, wer die am Freitag vom "ZDF Magazin Royale" von Jan Böhmermann und der Plattform "Frag den Staat" veröffentlichten NSU-Geheimakten durchgestochen hat. Die Behörde hat Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet, wie sie am Montag in einer Pressemitteilung bekannt gegeben hat.
Im Raum stehe die "unrechtmäßige Weitergabe von als Verschlusssachen eingestuften Dokumenten", heißt es zur Begründung. Eine Strafanzeige sei in solchen Fällen üblich.
"Staatswohl" und Schutz der Quellen
Der Verfassungsschutz steht nach eigenen Angaben seit der Veröffentlichung im Austausch mit den Polizei- und Verfassungsschutzbehörden: Es solle geklärt werden, ob Belange des Staatswohl tangiert werden und vor allem, ob durch die Veröffentlichung einzelne Personen gefährdet wurden.
Bestätigt hat das LfV, dass es sich bei den veröffentlichten Papieren um Berichte aus den Jahren 2013 und 2014 handelte. Darin sei das Ergebnis einer internen Prüfung über die Zeit vom 1. Januar 1992 bis zum 30. Juni 2012 zusammengefasst.
Die Behörde hatte dazu die eigenen Akten- und Dokumentenbestände auf Bezüge zum terroristischen "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) überprüft. Die Berichte hatte der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) 2012 in Auftrag gegeben. Das Ergebnis aber war zunächst für 120 Jahre als geheim eingestuft worden, später wurde die Zeit auf 30 Jahre verringert.
Verteidigung gegen Vertuschungsvorwurf
Dem Verfassungsschutz werden seit Jahren schwere Fehler und Versäumnisse vorgeworfen – und dass er und die CDU-geführte Landesregierung mit der Geheimhaltung das hätten vertuschen wollen. Angehörige der Opfer und im Landtag vor allem die Linke hatten das jahrelang kritisiert. Eine Petition für eine Veröffentlichung unterschrieben 134.000 Menschen.
Dem NSU-Untersuchungsausschuss hätten die Berichte vorgelegen, hielt der Verfassungsschutz am Montag dagegen. Das gelte auch für den laufenden Untersuchungsausschuss zur Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke. Auch die Mitglieder der parlamentarischen Kontrollkommission könnten jederzeit Einblick nehmen. Defizite der Arbeit der Verfassungsschützer seien zudem längst zur Sprache gekommen. Mit Zitaten zum Beispiel im Abschlussbericht des hessischen NSU-Ausschusses.
Droht jetzt der Vertrauensverlust?
Neben der gesetzlichen Pflicht zur Geheimhaltung sowie dem Schutz von Quellen und Erkenntnissen macht das LfV auch den ihm drohenden Vertrauensverlust gelten: Eine Nicht-Geheimhaltung von Verschlusssachen würde demnach den Informationsaustausch "mit anderen Sicherheitsbehörden auf der Ebene des Bundes und der Länder und somit auch die Aufgabenerfüllung des LfV Hessen im Sinne des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes erheblich beeinträchtigen".
Kritiker sehen sich in den nicht länger geheimen Berichten dagegen darin bestätigt, dass der Verfassungsschutz kein Vertrauen verdiene und ihm in Hessen schwere Pannen unterliefen. Die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yildiz, die im NSU-Prozess die Familie des Opfers Enver Şimşek vertrat, sprach von "Komplettversagen“, das dokumentiert werde.
Es habe sie geschockt zu sehen, dass Motiv für die Geheimhaltung nicht der angebliche Quellenschutz gewesen sei, sagte Basay-Yildiz am Montag. Es sei unfassbar, welchen Hinweisen offenkundig nicht nachgegangen worden sei. So hätten sich viele der gesammelten Informationen auf Waffen- sowie Sprengstoffbesitz von Rechtsextremisten bezogen. Es habe aber offenbar keine weiteren Ermittlungen gegeben.
Aus den Fehlern gelernt?
Der Verfassungsschutz verteidigte sich in seiner Erklärung am Montag damit, er habe "in den vergangenen Jahren einen umfassenden Neuausrichtungsprozess durchlaufen". So sei die Bearbeitung von Hinweisen auf Waffenbesitz von Extremisten "optimiert" und die Aus- und Fortbildung "intensiviert" worden. Außerdem sei die Behörde personell gestärkt worden.
Der Linken-Politiker Hermann Schaus, einst Obmann der Fraktion im NSU-Ausschuss, sagte dagegen dem hr: Der Verfassungsschutz habe sich noch immer nicht genug geöffnet, die schwarz-grüne Landesregierung müsse interne Verfahren überprüfen. Als Grundübel bezeichnete er, dass der Verfassungsschutzes das Erlangen von Informationen vor allem "auf bezahlte Neonazis, auf sogenannte V-Leute", stütze. Daran habe sich noch immer nichts geändert."
Das bestritt am Montag die in Hessen mit den Grünen regierende CDU. Holger Bellino, ihr Parlamentarischer Geschäftsführer, sagte in Wiesbaden, das LfV habe auf neue Entwicklung im Extremismus reagiert. Er hält eine Strafverfolgung wegen der geleakten Berichte für dringend geboten. Journalisten wie Böhmermann machten sich rechtlich vielleicht nicht strafbar. Moralisch betrachtet ist die Sache für Bellino aber eindeutig. Er zeigte sich darüber verwundert, dass die Linke so rasch nach der Veröffentlichung habe bestätigen können, dass die Leaks authentisch seien.
Zwei Mordopfer in Hessen
Der sogenannte "Nationalsozialistische Untergrund" hatte über Jahre unerkannt mordend durch Deutschland ziehen können. Die Opfer der Rechtsterroristen waren neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft und eine deutsche Polizistin. Zwei der Opfer stammten aus Hessen: Halit Yozgat aus Kassel und Enver Şimşek aus Schlüchtern (Main-Kinzig)
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 31.10.2022, 16.45 Uhr
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