Verhaltensbiologe zum Wahlkampf mit Wolf "Politische Stimmung wird gern mit Angst gemacht"
Kaum ein Tier löst so hitzige Debatten aus wie der Wolf. Emotionen, aus denen Politiker gern Kapital schlagen, sagt der Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal - auch zur Hessen-Wahl 2023. Ein Interview über die uralte Hassliebe zu einem hochpolitischen Tier.
Der Wolf ist in die Schussbahn der hessischen Politik geraten: Zur Landtagswahl werben zahlreiche Parteien dafür, ihn ins Jagdrecht aufzunehmen. Spitzenkandidaten haben sich dazu persönlich zu Wort gemeldet. So viel Aufhebens vor einer wichtigen Wahl um ein Tier - ist das nicht kurios?
Nein, sagt der Verhaltensbiologe und Wolfsexperte Kurt Kotrschal. Der Österreicher hat in seiner Heimat wiederholt Wahlkampfgetöse um den Wolf erlebt. Das Raubtier sei uns Menschen so ähnlich, dass es uns seit jeher umtreibe, sagt Kotrschal, der die gemeinsame Geschichte von Mensch und Wolf erforscht hat.
hessenschau.de: Im hessischen Landtagswahlkampf kann man den Eindruck gewinnen, dass sich die Parteien regelrecht um den Wolf reißen. Wie erklären Sie sich dieses große politische Interesse am Wolf?
Kurt Kotrschal: Der Wolf eignet sich natürlich als Neuankömmling gut als Projektionsfläche und als Sündenbock für vieles, was schiefläuft - besonders in der Landwirtschaft. In Österreich erleben wir dasselbe: Wir hatten gerade einen Tiroler Landtagswahlkampf, wo der Wolf massiv politisch instrumentalisiert wurde. Nach dem Motto: Dieser Neuankömmling ist schuld am Niedergang der Almwirtschaft und wird alle Almbauern aus dem Geschäft schmeißen. Das ist natürlich Unsinn.
hessenschau.de: Inwiefern?
Kotrschal: Wenn man sich den Rückgang kleinbäuerlicher Betriebe in Österreich oder auch in Deutschland anschaut, dann ging es lange vor der Rückkehr des Wolfs schon nach unten.
Das hängt zusammen mit einer neoliberalen Landwirtschaftspolitik, in der man bäuerliche Betriebe mit Schraubenfabriken verwechselt hat. Das führt dazu, dass die Großen in der Landwirtschaft das Sagen haben, während die Kleinen, die die Qualität produzieren, auf der Strecke bleiben, weil die Produktionspreise nicht stimmen. Daran ist aber nicht der Wolf schuld.
hessenschau.de: Sie glauben also, der Wolf wird politisch instrumentalisiert. Was soll das bringen?
Kotrschal: Na ja, politische Stimmung, besonders überall zu Wahlzeiten, wird gerne mit Angst gemacht. Man weiß, dass Angst die wirksamste Motivation ist, um Wähler zu mobilisieren und für sich zu gewinnen. In manchen Ländern - denken Sie an Ungarn oder auch in Österreich zu einem gewissen Grad - sind die Migranten an allem schuld. Der Wolf passt wunderbar in diese Kategorie.
hessenschau.de: Was haben Wölfe und Geflüchtete miteinander zu tun?
Kotrschal: Wölfe kommen in den letzten Jahren massiv überall in Europa zurück, und in manchen Ländern erinnert das Wording im Zusammenhang mit dem Wolf sehr an den Sprech im Zusammenhang mit Flüchtlingen.
Da kommen die Fremden rein, und plötzlich sind die Fremden wieder an allem schuld. Der Wolf ist auch in Deutschland, Österreich und in Südtirol ein ganz ausgezeichnet geeigneter Fremdling, um Ängste zu bedienen.
hessenschau.de: Nun kommen zum Beispiel Wildschweine in Hessen weit häufiger vor als Wölfe - und dass sie auch mal Menschen angreifen, ist bekannt. Angriffe von Wölfen auf Menschen gab es seit ihrer Rückkehr hier noch gar nicht. Wieso erhitzt ausgerechnet der Wolf unsere Gemüter so sehr?
Kotrschal: Wölfe sind im Moment Menschen gegenüber in Europa völlig harmlos - das war aber nicht immer der Fall. In den letzten 400 Jahren gab es Tausende von Wolfstoten in Europa.
Die großen Wolfsausrottungskampagnen erreichten ihren Höhepunkt mit dem Dreißigjährigen Krieg: Zu Kriegszeiten liegen auch menschliche Körper in der Gegend herum. Wenn das passiert, gewöhnen sich Wölfe mitunter daran, davon zu leben, was natürlich die Sympathien nicht verbessert. Wölfe wurden die Projektionsfläche für alles Böse.
Und wenn man weiter zurück geht: Vor der Christianisierung war ein übliches Mittel, um überzählige Kinder loszuwerden, sie im Wald auszusetzen - und die Wölfe haben dann das Geschäft besorgt. Es steckt also offenbar tief in uns drin, dass Wölfe das Potenzial haben, Menschen zu töten. Auch wenn sie es momentan nicht tun.
hessenschau.de: Ist die Angst irrational? Der böse Wolf nur eine Projektion?
Kotrschal: Ängste sind prinzipiell irrational. Die Gründe, gegen den Wolf zu sein, nicht unbedingt. Erstens: Er gefährdet Weidetiere, und man muss das Wirtschaften mit Schafen und Rindern umstellen. Zweitens: Er beeinflusst natürlich die Jagdwirtschaft. Das sind die rationalen Bereiche.
Aber was den Wölfen jetzt alles nachgesagt wird - man kann die Kinder nicht aus dem Haus lassen, sie werden uns alle auffressen, ich übertreibe ein bisschen - das ist natürlich Angstmache und Projektion.
Sei der Neuausbreitung der Wölfe in Mitteleuropa in den letzten 20 Jahren leben etwa 750 Millionen Europäer mit 20.000, 30.000 Wölfen zusammen und das relativ eng. Und man muss sehen, dass in dieser Zeit nichts passiert ist. Im Gegensatz zu Vorfällen mit Rehböcken, mit Wildschweinen, mit Hunden, mit Pferden haben Wölfe bis jetzt keine verletzten Menschen und schon gar keine Toten verursacht.
Aber seit Menschen mit Wölfen in Verbindung stehen, ist die Einstellung immer ein bisschen ambivalent. Es gibt kein Tier da draußen, das uns im sozialen Mindset ähnlicher wäre als der Wolf. Menschen und Wölfe sind Kleingruppenwesen, mit einer komplexen, freundlichen Kooperation innerhalb der Gruppe. Aber wir sind manchmal weniger freundlich zu denen, die nicht dazugehören. Und diese Ähnlichkeit führt dazu, dass Wölfe in der Geschichte dem Menschen nie ganz egal waren.
hessenschau.de: Sie haben über den Wolf mal gesagt, er sei das politischste aller Tiere. Wie haben Sie das gemeint?
Kotrschal: Tiere spielen in allen Kulturen eine riesige Rolle als Metapher für menschliches Verhalten. Wenn man sich die Wertigkeit der Tiere als Projektionsflächen für menschliches Denken anschaut, dann steht der Wolf ziemlich vorne - zumindest dort, wo er vorkommt: auf der Nordhalbkugel.
In der Antike bereits wurden Politiker, die besonders forsch und entschieden vorgingen, als Wölfe bezeichnet. Im Altgriechischen und Lateinischen spielten Wölfe eine große Rolle als Metapher für menschliches Verhalten, und so blieb es bis heute.
hessenschau.de: Im Vergleich zu anderen Bundesländern ist Hessen nur ein kleines Wolfsland mit wenigen Rudeln. Aber es werden mehr. Ist es da nicht im positiven Sinne vorausschauend, wenn Politiker sich auch hier schon intensiv mit dem Wolf beschäftigen?
Kotrschal: Das könnte sein. Andererseits ist es aber typisch. Auch in Österreich ist die Fremdenskepsis dort am größten, wo so gut wie keine Migranten ankommen.
Politiker glauben immer noch, dass man prophylaktisch gegen den Wolf auftreten soll und dann verhindern kann, dass er wieder reinkommt. Das ist aber völlig irrational.
hessenschau.de: Wieso?
Kotrschal: Sie können schießen, so viel Sie wollen: in einem Bundesland oder in Österreich, illegal oder halb legal. Aber Wölfe haben eine hohe Vermehrungsrate von circa zwanzig Prozent in Rudeln pro Jahr.
Wenn man irgendwo glaubt, Wölfe per Abschuss draußen halten zu können, ist das ein Irrtum. Denn für jeden abgeschossenen Wolf, ob in Österreich oder Hessen, kommen zwei weitere rein. Wenn man sich nicht darauf einstellt, wird dieser Konflikt nur verlängert.
hessenschau.de: Was bedeutet das Ihrer Meinung nach, sich "darauf einzustellen"?
Kotrschal: Zum Beispiel, dass man Schafe mit adäquaten Zäunen hält. Dass man Maßnahmen trifft, die dem Wolf das Erbeuten von Nutztieren erschweren. Viel mehr brauchen wir nicht tun, denn die Wölfe sorgen selbst dafür, dass sie nicht übermäßig in einem Gebiet vorkommen.
In einer Gegend, wo Schafe und Rinder sachgerecht geschützt sind, lernen Wölfe sehr schnell, dass das keine lohnende Beute ist. Sie werden sich an Rehe und Hirsche halten. Die haben Sie in Deutschland ja zur Genüge.
hessenschau.de: Wie können wir die hitzige Debatte um den Wolf wieder versachlichen?
Kotrschal: Man kann nur dem Erzeugen von Ängsten Sachinformation entgegenstellen. In Deutschland neigt man doch relativ stark zur Rationalität, verglichen mit anderen Ländern. Man kann nur hoffen, dass sich die Leute langsam an die Sache gewöhnen werden und lernen, wie man mit dem Wolf umgeht, lebt und wirtschaftet.
Mein Aufruf wäre, sich zu entspannen: Der Wolf kann vielleicht wirksam instrumentalisiert werden, um Angst zu erzeugen. Aber das schafft auf die Dauer nur Probleme und löst sie nicht. Man sollte wieder zur ruhigen Betrachtung der Sachlage zurückkehren und sich überlegen, wie man sich auf die Situation einstellen kann.
Hinweis: Wörtlich sagte Kurt Kotrschal, mit der Angst vor dem Wolf werde versucht, "politisches Kleingeld zu schlagen" - da dieser Ausdruck nur in Österreich üblich ist, wird er hier zwecks besserer Verständlichkeit mit "politische Stimmung machen" wiedergegeben.