Vier Jahre nach Attentat Landesregierung bittet Hanau-Angehörige erstmals um Entschuldigung
Mehr als vier Jahre nach dem rassistischen Attentat von Hanau fordern die Opferfamilien noch immer weitere Aufklärung. Und sie warteten bisher auf eine Geste der Landesregierung. Zumindest das hat jetzt ein Ende.
Am Abend des 19. Februar 2020 erschoss ein psychisch kranker Rechtsextremist in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund, seine Mutter und sich selbst. Nun holt der seit Januar dieses Jahres amtierende hessische Innenminister Roman Poseck (CDU) innerhalb weniger Tage nach, was sich Überlebende und Hinterbliebene bislang neben weiterer Aufklärung von der Landesregierung vergeblich wünschten.
Anfang der Woche traf sich Poseck unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit den Opferfamilien. An sie richtete sich der Minister dann am Donnerstag bei einer Pressekonferenz in Wiesbaden mit den Worten: "Ich entschuldige mich ausdrücklich für die Fehler, die passiert sind." Es tue ihm "über alle Maßen leid", dass die Angehörigen weiteres Leid hätten erfahren müssen.
Als Beispiele für Fehler der Polizei "in der Tatnacht und danach" nannte Poseck den nicht funktionierenden Polizeinotruf und die Art und Weise, wie Todesnachrichten überbracht worden seien. Die Polizei habe engagiert und aufopferungsvoll gehandelt. Aber so verständlich Fehler bei einem solch außergewöhnlichen Einsatz seien: "An einigen wichtigen Stellen" sei die Polizeiarbeit den Ansprüchen nicht gerecht geworden, sagte Poseck.
Minister: Schutz in Hanau nicht gelungen
Beides, ein direktes Treffen und eine Entschuldigung, hatte Posecks Amtsvorgänger und CDU-Parteikollege Peter Beuth stets verweigert. Dafür war er nicht nur von Oppositionspolitikern im Landtag kritisiert worden. Beuth sah sich damals auch Rücktrittforderungen ausgesetzt. Die Grünen als damaliger Koalitionspartner der Union zeigten sich verärgert, als Beuth auch bei seinem Auftritt im Untersuchungsausschuss zwar Bedauern äußerte, aber keine Entschuldigung abgab.
Die Menschen erwarteten zu Recht, dass der Staat sie schütze, sagte Innenminister Poseck nun. Das sei in Hanau nicht gelungen. Der Anschlag sei eine Zäsur für Hessen. "Es gilt alles zu tun, dass sich so etwas niemals wiederholt", so Poseck.
Bei seiner Pressekonferenz ging es ihm darum darzustellen, welche Konsequenzen die Landesregierung aus dem Attentat und der Kritik an der Polizei gezogen habe oder noch ziehen will.
Poseck griff mit seiner Entschuldigung für ausgebliebenen Schutz fast wörtlich jene Formulierung auf, die bereits der Landtag im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum Attentat gewählt hatte. Am Anfang des Berichts bittet auch das Parlament Überlebende und Hinterbliebenen um Entschuldigung dafür, dass der Staat die Opfer nicht habe schützen können.
Von den Ergebnissen des Berichts sahen sich aber vor allem Beuth und die CDU-Fraktion bestätigt. Die Tat sei nicht zu verhindern gewesen, die Polizei habe in einem schnellen und ausgezeichneten Einsatz keine gravierenden Fehler gemacht, so das Fazit.
Initiative vermisste Konsequenzen
Die Initiative 19. Februar, in der sich Betroffene und Unterstützter organisiert haben, reagierte auf den Bericht seinerzeit enttäuscht und verbittert. Ihrer Meinung nach verpasste nach Regierung und Polizei auch das Parlament die Chance zur ernsthaften Aufarbeitung. "Niemand hat die politische Verantwortung übernommen. Es gab keine Konsequenzen", lautete ihr Fazit.
Eines der Mitglieder der Opfer-Initiative, Said Etris Hashemi, reagierte am Donnerstag enttäuscht auf Posecks Statement. Er rechne es dem Innenminister persönlich sehr hoch an. Es komme aber "erstens viel zu spät und zweitens von der falschen Person", sagte er dem hr. Hashemi hatte das Attentat schwer verletzt überlebt. Sein Bruder Said Nesar und gemeinsame Freunde kamen ums Leben.
"Wir erwarten, dass die Fehler klar benannt werden", sagte Hashemi: "was alles schiefgelaufen ist, was für Versäumnisse es gab, dass das aufgearbeitet wird." Man erwarte, dass "die Verantwortung von den Verantwortlichen übernommen" werde.
Abschlussbericht größere Bedeutung für Poseck
Der Ausschussbericht hält ebenso wie eine innerpolizeiliche Untersuchung eine Reihe von Fehlern fest. Ihnen maß Poseck nun größere Bedeutung als sein Vorgänger bei, wenn er sie nach eigenen Angaben an "einigen wichtigen Stellen" identifizierte. Laut Bericht war der Polizeinotruf am Abend des Anschlags personell unterbesetzt. Außerdem war die Anlage veraltet: Gespräche, die nicht direkt angenommen werden konnten, leitete sie nicht an andere Polizeidienststellen weiter.
Das führte dazu, dass der 22-jährige Vili-Viorel Păun als eines der späteren Opfer nicht durchkam. Er verfolgte den Täter nach den ersten Schüssen mit seinem Auto. Kurz danach erschoss der Mann ihn.
Sicherheitsbehörden sollen Vertrauen zurückgewinnen
"Es ist mein Ziel, Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden zurückzugewinnen und zu stärken", sagte Innenminister Poseck nun. Das Attentat verpflichte das Land, "die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen".
Kritik der Initiative 19. Februar an der Ermittlungsarbeit macht sich der Minister aber nicht zu eigen. Er habe Vertrauen in die Arbeit der Behörden, sagte er. Die Initiative fordert, einen externen Ermittler einzuschalten. Sie will unter anderem beleuchtet sehen, warum ein Notausgang in der Arena-Bar als einem der beiden Tatorte vermutlich verschlossen war und welche Folgen das hatte. Angehörige gehen davon aus, dass Opfer so an der Flucht gehindert wurden.
60 Empfehlungen für Verbesserungen
Grundlage der Konsequenzen aus dem Attentat ist nach Angaben Posecks, dass der Rechtsextremismus als größte Gefahr für die Demokratie konsequent bekämpft werden müsse. Dazu zählten die Arbeit des Verfassungsschutzes, die Strafverfolgung mit Hilfe der eigens geschaffenen Besonderen Aufbauorganisation Rechts sowie die Präventionsarbeit.
Dazu sollen vor allem die 60 Empfehlungen verwirklicht werden, die der Untersuchungsausschuss am Ende seines 750-seitigen Berichts gab. Mit der Umsetzung hatte der damalige Innenminister Beuth nach seinen Angaben unmittelbar begonnen.
Laut Poseck wurde inzwischen das Notrufsystem verbessert. Gehen besonders viele Anrufe unter der 110 ein, kann demnach ein sogenannter Anschlagsbutton gedrückt werden: Dann verkürze sich die Warteschleife, weil alle sieben Leitstellen in Hessen die Anrufe annehmen können.
Außerdem sei an einer besseren Betreuung von Opfern und Angehörigen durch die Polizei gearbeitet worden. Poseck will zudem wie sein Vorgänger eine Verschärfung des Waffengesetzes auf Bundesebene erreichen. Ebenso soll das Landesrecht so geändert werden, dass die Waffenbehörden informiert werden, wenn psychisch kranke Menschen keine Waffenerlaubnis haben sollten. Der Attentäter von Hanau besaß legal Waffen, obwohl er laut Gutachten paranoid-schizophren und deshalb auch bereits in Behandlung war.
Seit Anfang 2024 Innenminister
Als das Attentat 2020 geschah, war Poseck Präsident des Oberlandesgerichts in Frankfurt und des Hessischen Staatsgerichtshofs. Anfang dieses Jahres wechselte er vom Amt des Justizministers, das er 2022 angetreten hatte, in der neuen CDU/SPD-Landesregierung ins Innenressort. Sein Vorgänger Beuth ist ganz aus der Politik ausgestiegen.
Aus dem Landtag erhielt Poseck Zustimmung für die Entschuldigung. Als Akt der Stärke würdigte sie der Koalitionspartner SPD. Mit dem Ausruf "endlich" bewerteten die oppositionellen Grünen sie als überfällig. Vanessa Gronemann, ihre innenpolitische Sprecherin, kündigte an, man werde die Umsetzung der Handlungsvorschläge weiterhin kritisch begleiten. Die AfD forderte, in der Aus- und Fortbildung müssten seltene Einsatzlagen wie in Hanau häufiger trainiert werden.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 13.06.2024, 19.30 Uhr
Ende der weiteren Informationen