17.800 Ausreisepflichtige, 1.050 Abschiebungen Warum so viele Abschiebungen aus Hessen scheitern
Wer nach einem abgelehnten Asylantrag nicht freiwillig ausreist, der wird abgeschoben. Das ist auch in Hessen oft nur Theorie. 1.050 Menschen wurden im vergangenen Jahr abgeschoben - bei 17.800 Ausreisepflichtigen. Dafür gibt es mehr als einen Grund.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im "Dezernat 23 - Ausländerrecht" des Regierungspräsidiums Gießen wissen, dass durch ihre Arbeit mancher Lebenstraum zerplatzt. Hier sind 39 Menschen im Auftrag des Landes zuständig für die Rückführung von Ausländerinnen und Ausländern, die das Asylverfahren durchlaufen haben, aber abgelehnt wurden. Kurz: für deren Abschiebung.
Keine leichte, aber eine notwendige Aufgabe, sagt Abteilungsleiterin Claudia Coburger-Becker: "Unsere Mitarbeiter sind sich bewusst, dass sie für den Staat eben diese letzte Konsequenz ausüben." Diese "letzte Konsequenz zu ziehen", dauert meist lang - oft Wochen oder Monate. Und so klafft bundesweit und auch in Hessen eine Lücke immer weiter auseinander: zwischen denen, die gehen sollen, und denen, die tatsächlich gehen.
Langwierige Verhandlungen
Das belegen Daten des hessischen Innenministeriums und des Ausländerzentralregisters. Im Jahr 2022 wurden 1.048 Menschen abgeschoben, 40 Prozent weniger als noch fünf Jahre zuvor. Unterdessen ist die Zahl der Ausreisepflichtigen deutlich gestiegen: von 11.697 Menschen im Jahr 2018 auf 17.821 im vergangenen Jahr. Die meisten dieser Ausreisepflichtigen stammen aus Afghanistan (rund 3.000 Betroffene), Irak (1.900), Iran (1.300), Pakistan (1.200) und der Türkei (900).
Es hat viele Ursachen, dass nicht abgeschoben wird, obwohl der Anspruch auf Asyl rechtskräftig abgelehnt worden ist. Am größten ist laut Coburger-Becker das Problem, für die betreffenden Menschen gültige Ausweisdokumente zu erhalten, die im Herkunftsstaat auch anerkannt werden. "Da müssen dann hin und wieder langwierige Verhandlungen mit den Konsulaten geführt werden."
Duldung statt Abschiebung
Allein wegen fehlender Reisedokumente erhielten im vergangenen Jahr knapp 3.000 Ausreisepflichtige eine Duldung, durften also erst einmal weiter in Hessen bleiben. Die Beschaffung eines Passes oder Passersatzes scheitert oftmals an der "fehlenden Mitwirkung der Betreffenden, insbesondere mit Blick auf die Identitätserklärung", heißt es aus dem Innenministerium. Zudem weigerten sich einzelne Herkunftsstaaten entsprechende Papiere auszustellen oder verschleppten die Verfahren.
"Die Bereitschaft der Länder, ihre Leute wieder zurückzunehmen, obwohl sie bei uns ausreisepflichtig sind, ist nicht so ausgeprägt, wie wir uns das wünschen", sagt Innenminister Peter Beuth (CDU). Probleme gebe es vor allem mit den nordafrikanischen Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien.
Dabei sei es die völkerrechtliche Verpflichtung der Herkunftsländer, die Menschen wieder aufzunehmen, wenn sie kein Bleiberecht in einem anderen Land hätten. Beuths Forderung: Die Bundesregierung müsse mit Nachdruck daran arbeiten, dass die Länder, die sich dabei nicht kooperativ zeigten, dies in Zukunft täten.
Neuer Posten, alte Probleme
Damit sich das ändert, hat die Bundesregierung für diese Aufgabe eigens einen neuen Posten geschaffen: den des Sonderbevollmächtigten für Migration im Bundesinnenministerium von Nancy Faeser (SPD), die sich als Spitzenkandidatin im Oktober ums Amt der Ministerpräsidentin bewirbt. Die Wahl fiel auf Joachim Stamp (FDP): Er war zuvor als Minister in Nordrhein-Westfalen zuständig für Geflüchtete und ist seit Februar im neuen Amt.
Wie genau er die fraglichen Staaten zur besseren Zusammenarbeit bei Abschiebungen bewegen möchte, ist noch nicht bekannt. Klar ist: Er wird ihnen etwas bieten müssen. Dazu zählen Visa-Erleichterungen, der Ausbau von Wirtschaftsbeziehungen und Technologietransfers. Oder auch mehr Möglichkeiten, auf legalem Weg nach Deutschland zu kommen. Den sogenannten Visahebel, also die erschwerte Einreise von Eliten aus unkooperativen Staaten, schließt Bundesinnenministerin Faeser allerdings aus.
FDP fordert mehr Landesgeld für Polizei
Dass aber nicht nur der von einer Ampel-Koalition regierte Bund, sondern auch das Land mehr tun müsse, findet die oppositionelle FDP im Landtag. "Manchmal hat man den Eindruck, dass sich Bund und Land die Verantwortung gegenseitig zuschieben", sagt Fraktionschef René Rock. Wenn der schwarz-grünen Landesregierung das Thema wichtig sei, müsse sie auch bereit sein, mehr zu investieren.
Da die Länder an sich für Abschiebungen zuständig sind, schlägt der FDP-Politiker zum Beispiel vor, mehr Geld für klassische Polizeiarbeit bereitzustellen. Die sei zum Beispiel nötig, um die abzuschiebenden Menschen zum Flughafen zu bringen – oder sie an einer Flucht zu hindern.
Denn auch daran scheitern Rückführungen, wie das hessische Innenministerium einräumt. Die Betreffenden würden sich "durch kurzfristiges Entfernen aus ihrer Unterkunft oder durch längerfristiges Untertauchen" entziehen. Das seien keine Einzelfälle, sondern geschehe "oftmals".
Verbesserte Chance für Integrierte?
Neben denen, die nicht abgeschoben werden wollen, gibt es diejenigen, die gar nicht abgeschoben werden dürfen. Außer Kranken gehören dazu derzeit Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan, Syrien, Irak, Iran oder Somalia. Allein in Hessen bedeutet das für Tausende: Sie dürfen auf jeden Fall erst mal hier bleiben, bekommen eine Duldung und darüber vielleicht doch die Chance auf eine Zukunft in Deutschland.
Die Aussichten darauf sollen sich durch das von Bundesinnenministerin Faeser angestoßene Chancen-Aufenthaltsrecht verbessern. "Das richtet sich an die Menschen, die schon relativ lange hier sind, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden können und die nun die Möglichkeit haben, einen Aufenthaltstitel zu erwerben", sagt Claudia Coburger-Becker vom Dezernat Ausländerrecht des Regierungspräsidiums Gießen.
Voraussetzung ist der Nachweis, dass jemand sich um Integration bemüht hat: indem er Deutsch gelernt hat, einer Arbeit nachgeht oder eine Ausbildung absolviert. Fälle, in denen im Dezernat 23 künftig vielleicht keine Lebensträume mehr zerplatzen.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 02.03.2023, 19.30 Uhr
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