Darmstadts außergewöhnliche Hilfsaktion So lief die Nacht im Schlafsack am Böllenfalltor
Darmstadt 98 hat zum Übernachten ins Stadion eingeladen, um auf das Thema Obdachlosigkeit aufmerksam zu machen. Die Nacht zeigt die Erschwernisse und Schicksale der Menschen auf der Straße - aber auch die besondere Fanszene der Lilien.
Funktionäre von Darmstadt 98 wachen am Samstagmorgen vor dem Spielertunnel des Lilien-Stadions auf. Doch bevor die ersten Schlagzeilen daraus gedreht werden, sei hinzugefügt: Die Übernachtung am Böllenfalltor liegt nicht an einem Rausschmiss daheim oder der ausgedehnten Feier des Heimsieges, sondern dient dem guten Zweck.
Neben Vizepräsident Markus Pfitzner und Geschäftsführer Michael Weilguny schlafen fast 40 andere draußen am Böllenfalltor, um mit der "Open-Air-Übernachtung" auf das Thema Obdachlosigkeit aufmerksam zu machen. Die Spenden und auch die Zahlungen für Schlafutensilien gehen komplett an karitative Einrichtungen und Bedürftige, doch über die finanziellen Hilfen hinaus steht besonders die buchstäbliche Sensibilität im Vordergrund: "Wir nehmen das Thema ernst, wir wollen nachfühlen, wie sich eine Nacht draußen anfühlt", sagt Pfitzner bei der Einführungsrunde am Abend. Florian Holzbrecher, Leiter CSR (Gesellschaftliche Untenehmensverantwortung) bei den Lilien und einer der Organisatoren, meint: "Wir wollen erreichen, dass sich ein Denkprozess in Gang setzt. Auch dass die Leute lernen, an wen sie sich bei der Hilfe wenden können."
"Ohne meinen Hund wäre ich vergewaltigt worden"
Nicht nur bloß auf das Problem aufmerksam machen, sondern es am eigenen Leib erfahren (zumindest für eine Nacht): Das ist der unorthodoxe Ansatz der Lilien. Eine kollektive Übernachtung im Stadion bei Temperaturen unter zehn Grad hat es bisher im deutschen Fußball noch nicht gegeben. "Ihr schlaft unter Brücken oder in der Bahnhofsmission", haben Fans in deutschen Stadien schon seit den achtziger Jahren als Schmähgesang dem Gegner zugerufen, die Kurven von St. Pauli oder Schalke 04 diesen sogar ironisch in der "Wir"-Form übernommen. Dabei wird an diesem Tag wieder deutlich, dass der Alltag auf der Straße kein Spaß ist.
"Ich bitte euch, helft den Leuten, auch wenn es nur mit einem Brötchen ist", sagt die ehemalige Obdachlose Moni im VIP-Raum des Stadions, in dem zu Beginn des Abends mit Diskussionen und Vorträgen in das Thema eingeführt wird. Ohne ihren Hund wäre sie mehrmals vergewaltigt worden, berichtet Moni. "Die haben mich fast zusammen getreten." Gerade dies ist schon einmal ein Lerneffekt des Abends: Obdachlosen setzt eben nicht nur die Kälte und Heimatlosigkeit zu, sie müssen sich und ihr weniges Hab und Gut auch verteidigen, ihren Alltag organisieren. "Das ist mitunter mehr als ein Acht-Stunden-Tag", erklärt ein Wissenschaftler aus Frankfurt.
Über 400.000 wohnungslose Menschen
Allein die am Mikro genannten Zahlen lassen aufhorchen: 45.000 obdachlose Menschen gibt es demnach im ganzen Land, die Zahl der wohnungslosen Menschen wird gar auf circa 417.000 taxiert. In Darmstadt stehen mehrere Unterkünfte, dabei auch speziell für Frauen und Familien. Selbst Schwangere oder Eltern mit kleinen Kindern suchen Obdach. Es sind Leid und Armut, die gerade in den Post-Corona-Zeiten und des Wohnungsnotstandes allgegenwärtig in den Straßen erscheinen, doch gleichzeitig aus dem Bewusstsein verdrängt werden.
Natürlich kommt da eine einzelne Übernachtung wie eine bloße Simulation, wie ein kurzes Armuts-Sightseeing daher, mögen manche einwenden. Doch auf der anderen Seite hat das häufig bemühte Sprichwort der Indianer auch in diesem Kontext nichts von seiner Berechtigung verloren: "Bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin." Oder einen Abend wie er gefroren habe.
Die Suche nach der windstillen Ecke
Auf dem Hinweg nach Darmstadt prognostiziert der Wetterbericht im Radio gar fünf Grad für die Nacht, im Stadion ohne zugebaute Ecken zieht der Wind schon am Abend kalt durch. So schleppt man Isomatten, dicke Pullover und Thermoskannen über die Tribüne des Stadions und verlässt sich auf die Tricks von so manch "erfahrenem" Fan. Horst Wittersheim ist so einer, ein 69 Jahre alter Mann mit blauer Jacke sucht sich gleich zielsicher eine Ecke vor einer Loge, die ziemlich windgeschützt scheint. Sonst sitze er drüben auf der Nord, sagt er. In den sechziger Jahren hatte er als Bub immer wieder an den Angelteichen der Region unter freiem Himmel übernachtet. So ein bisschen erinnert die Aktion ihn also an die eigene Kindheit, auch "wenn wir gar nicht nachempfinden können, wie es den Obdachlosen 365 Tage im Jahr geht."
Wittersheim hüllt sich in seinen Schlafsack, die Mütze mit den Lilien-Pins noch auf dem Kopf. Er ist in Darmstadt geboren und schon seit jeher Fan der 98er. Früher verkaufte er die Stadionheftchen, um hier reinzukommen, oder wartete auf die zweite Halbzeit, bis die Tore öffneten. "Wir hatten ja kein Geld." Später arbeitete er als Gas-Wasser-Installateur, Straßenbahnfahrer und in der Omnibus-Werkstatt. Nach seiner Rente vor einigen Jahren legte er sich ein (Reise- und Übernachtungs-) Equipment für den Jakobsweg zu, doch Corona durchkreuzte den Plan. "Wie ich von der Aktion heute gelesen habe, habe ich gesagt: Das ist cool, da machste mit. Da kann ich auch meine Sachen zur Verfügung stellen." Und so schläft "der Horst", wie er sich eigentlich vorgestellt hat, im Stadion, für dessen Eintritt ihm früher das Geld gefehlt hatte. Jetzt spendet er nicht nur 98 Euro, sondern auch seine Kleidung für Bedürftige. Das Bölle: ein Stadion mit Lebenskurve.
Vom Knast auf die Straße
Einige Meter weiter, hinter einem anderen Vorsprung, breitet Richard seinen Seesack aus, auch ihn verbindet eine besondere Geschichte mit dem Stadion und der Stadt. Er hat vier Winter auf den Straßen seiner Heimatstadt verbracht, nachdem ihm seine Wohnung in Dortmund fristlos gekündigt worden war. "Ich war im Gefängnis, habe zwei Geldstrafen abbezahlt und bin erstmals auf die Straße (gekommen). Ich wusste, dass ich Straße nur in Darmstadt mache. Immer wenn ich nichts hatte, hatte ich hier immer das Gefühl, dass ein Engel um die Ecke kommt, mir beispielsweise Pfand gibt." Seit dem Sommer im vergangenen Jahr hat Richard eine Wohnung, einen Personalausweis und sogar ein Handy - auf das er aber schimpft. "Früher war ich unabhängiger. Ich hatte ein Outlaw-Leben. Doch dann habe ich mich Stück für Stück von der Szene abgewendet." Richard spielt noch nach 1 Uhr Karten mit anderen, seine Geschichte hört sich nach einem Happy-End an, doch mitunter spricht er schon fast begeistert von seinem unangepassten, früheren Leben.
Seine Stimme hört man noch länger in der Nacht. Insgesamt hallen immer wieder Geräusche auf der Tribüne, so ganz in den Tiefschlaf kommt man nicht - aber genau das ähnelt den Berichten der Obdachlosen, die immer wieder um ihre letzten Habseligkeiten fürchten müssen. Der Boden auf den Stadiongängen fühlt sich naturgemäß unbequem an auf einer dünnen Isomatte, doch weiter oben zieht wenigtens nicht die Feuchtigkeit vom Boden hoch. Immerhin: Es wird nicht so kalt wie befürchtet, die Temperaturen in der Nacht sind sogar gut für Oktober. Nur um sechs Uhr morgens wird es nass, nicht durch den Regen, sondern durch den Rasensprenger. Spätestens da weiß man, dass man in einem Fußballstadion wach wird. Die Ersten machen sich da auf zum Frühstück auf der Tribüne.
Zwei Stunden Schlaf und dann nach Augsburg
Daniel und Tanja Keil sowie Nina Bischoff haben beim ersten Kaffee nur zwei Stunden geschlafen. Doch während all die anderen und man selbst sich schon auf das heimische Bett freuen, geht es für die Drei schnurstracks weiter. Und zwar im Fan-Bus zum Spiel nach Augsburg, knapp 330 Kilometer entfernt. "Wir sind auch einmal in der Woche beim Training, fahren im Bus zu jedem Spiel und besuchen frühere Spieler. Wir sind überall dabei", erzählen sie. Abends um 22 Uhr wollen sie dann wieder zurück in Darmstadt sein und feiern gehen. Und im Bus oder in den Clubs können sie wohl nicht nur vom Auswärtssieg erzählen, sondern auch wie sich eine Herbstnacht ohne Obdach anfühlt. Und andere aufmerksam machen. Allein dafür hat sich die Nacht am Bölle schon gelohnt.