Großbaustelle Darmstadt 98 Lilien im Abstiegsstrudel vor dem Untergang
Nach dem 0:6-Debakel gegen den FC Augsburg schwindet die Hoffnung auf den Klassenerhalt bei Darmstadt 98 immer mehr. Trainer Torsten Lieberknecht stellt sich weiter vor sein Team, die vielen Probleme kann aber wohl auch er nicht mehr lösen.
Torsten Lieberknecht agierte nach der 0:6-Schmach gegen den FC Augsburg am Samstag wie der Kapitän eines havarierten Schiffes. Der Lilien-Trainer stellte sich zuerst an vorderster Stelle der Brandung der aufgebrachten Fans entgegen und schützte seine Spieler, später lud er die Schuld für die missliche Lage komplett auf sich. "Ich suche die Fehler zuerst bei mir und wollte das auch zeigen", betonte er auf der Pressekonferenz. "Ich wollte mit der Mannschaft zusammen untergehen."
Lieberknecht stiehlt sich nicht aus der Verantwortung und geht weiter voran, den Untergang wird aber auch er wohl nicht mehr verhindern können.
Lieberknecht ist verantwortlich, die Schuld liegt woanders
Dass sich Lieberknecht, der die Lilien im vergangenen Sommer sensationell in die Bundesliga geführt hatte, nach dieser fußballerischen Bankrott-Erklärung seines Teams überhaupt selbstkritisch zeigte, ehrt ihn und ist gleichzeitig Teil seines Berufs. Angesichts der haarsträubenden individuellen Fehler seiner Hintermannschaft, die Präsident Rüdiger Fritsch passend als "Potpourri der Blackouts" bezeichnete, war der Anteil des 50-Jährigen an dem 0:6-Debakel realistisch betrachtet aber verschwindend gering. Lieberknecht muss als Trainer den Kopf hinhalten, ihm diese Klatsche und die nun schon 17 Spiele anhaltende Sieglos-Serie allein anzukreiden, wäre aber zu einfach und falsch.
Der Lilien-Coach, der sich trotz Tabellenplatz 18 und mageren 13 Punkten weiter keine Sorgen um seinen Job machen muss, ist sicher nicht schuldlos an der bislang enttäuschenden Darmstädter Saison. Sollten die Lilien am Ende absteigen – und das werden sie unter normalen Umständen – hat sie letztlich aber nicht Lieberknecht, sondern ein mit vielen kleinen und großen Problemen gepackter Rucksack nach unten gezogen. Die Südhessen, die eine perfekte Saison gebraucht hätten, um in der Bundesliga bestehen zu können, werden letztlich daran scheitern, dass es genau das eben nicht war. Es lief und läuft nicht rund.
Der Kader passt nicht
Der unerklärliche Auftritt gegen Augsburg machte die großen und vielfältig gelagerten Schwierigkeiten der Lilien sichtbar. Den ersten Schritt in Richtung Abgrund gingen die Südhessen aber schon vor der Saison. Der Kader, der vom inzwischen abgetretenen Ex-Manager Carsten Wehlmann zusammengestellt wurde, genügt den Bundesliga-Ansprüchen nicht und ist zudem nicht ausgewogen besetzt. Im Gegensatz zu den letzten beiden Jahren in der 2. Bundesliga, als das Team harmonierte, griffen die Kaderplaner dieses Mal daneben. Von den zahlreichen Neuzugängen wusste bislang nur Rückkehrer Tim Skarke wirklich zu überzeugen, Fabian Nürnberger zeigte sein Potenzial zumindest in Ansätzen. Vom Rest kam zu wenig, Lieberknecht fehlen zudem immer wieder echte Alternativen.
Wie groß der Einfluss des Trainers auf die Zusammenstellung seines Aufgebots war, lässt sich schwer beurteilen. Letztlich war aber Wehlmann für den Kader verantwortlich. Dass der gebürtige Hamburger im Winter völlig überraschend seinen Vertrag kündigte und dann kurz vor der heißen Transfer-Phase freigestellt wurde, passt ins Bild dieser verkorksten Spielzeit. Nach hr-Informationen reichte Wehlmann seine Kündigung zwei Tage nach einem mehrstündigen Planungs-Gespräch für die laufende und die kommende Saison ein. Was genau in diesen 48 Stunden zwischen Ausblick und Abschied passiert ist, bleibt bislang ein Rätsel.
Lilien haben keine Achse
Bemerkbar macht sich zudem, dass sich die Mannschaft nie richtig gefunden hat. Eine Führungs-Achse, die das Team leitet und ordnet, hat sich ebenso wenig herauskristallisiert wie eine Stammformation in der Defensive. Das liegt zum einen definitiv am Verletzungspech, die Lilien mussten immer wieder Leistungsträger ersetzen, Fixpunkt Marvin Mehlem verletzte sich sogar gleich zweimal schwer und wird in dieser Saison voraussichtlich nicht mehr zum Einsatz kommen. Gleichzeitig sorgten aber auch vier (!) glatt Rote Karten für eine selbstverschuldete Unruhe. Auch hier lässt sich zusammenfassen: Es hakt und hakte an zu vielen Stellen.
Trotz aller Rückschläge betonten die Lilien, die bei kniffligen Situationen hin und wieder auch Pech mit den Schiedsrichtern hatten, dies aber nicht als Erklärung oder gar Ausrede anführen sollten, immer wieder, weiter fest an den Klassenerhalt zu glauben. Das Problem dabei: Auf dem Platz sah man diese Überzeugung in den vergangenen Wochen zu selten. In Spielen wie gegen Leverkusen oder Stuttgart wären durchaus Überraschungen drin gewesen, in den entscheidenden Momenten fehlte aber oft der letzte Mumm. Dass es ein 0:6 gegen Augsburg brauchte, um für Emotionen im Stadion zu sorgen, sagt vieles.
Rechnerisch ist weiter alles möglich
Dass Darmstadt 98 nach gerade einmal zwei Saisonsiegen weiterhin nur vier Punkte Rückstand auf Relegationsplatz 16 und den 1. FC Köln hat und damit rechnerisch weiter voll im Rennen ist, gehört zur ganzen Wahrheit natürlich auch dazu. Selbst im Verein empfinden das dem Vernehmen nach einige aber als grotesk. Zum Vergleich: Der FC Schalke 04 (20 Punkte) und Hertha BSC (21) standen zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres punktetechnisch deutlich besser da. Am Ende stieg die Hertha mit 29 und Schalke mit 31 Zählern ab. Ein Bereich, den die Lilien nicht mehr erreichen werden.
Der SV Darmstadt 98 hat es in den beiden vergangenen Zweitliga-Jahren geschafft, regelmäßig über seine Leistungsgrenze hinauszugehen und dabei auch Dämpfer scheinbar problemlos weggesteckt. Da dies in dieser Saison nicht annähernd gelang und einfach zu viel schieflief, ist der sich ankündigende Abstieg die logische Konsequenz. Es sollte nicht sein.