25 Jahre Fjörtoft-Übersteiger Der Moment, als das Waldstadion stillstand
Vor 25 Jahren schoss Jan-Aage Fjörtoft das irrwitzigste Tor der Frankfurter Fußballgeschichte. Es ist das prägende Erlebnis einer ganzen Fan-Generation. Noch in der Kabine wurde dem Schützen beim Gedanken an den Treffer ganz anders.
Es ist nur noch eine Minute zu spielen und im Frankfurter Waldstadion drückt die Hitze. 30 Grad im Schatten, die Sonne brennt so stark, dass die schwarz-roten Trikots der Spieler von Eintracht Frankfurt zu leuchten scheinen. Um sie herum steht die Luft, man meint, sie greifen zu können, ebenso wie diese Ungewissheit, die über allem liegt. Noch ein Tor? Noch zwei? Es ist ein Moment im leeren Raum, ein volles Stadion im Schwebezustand zwischen Bundesliga und Zweiter Liga, Fans klammern sich an mitgebrachte Radios wie Ertrinkende an ein Stück Holz. Wie steht es in Nürnberg? Tor in Rostock, der eingewechselte Majak, Frank Baumann vergibt freistehend gegen den SC Freiburg.
Internet? Liveticker? Fehlanzeige, es ist 1999, der letzte Spieltag, alles oder nichts, die Spieler der Eintracht mit den Kräften fast am Ende, der Gegner aus Kaiserslautern ebenso. An der Seitenlinie steht der ausgewechselte Thomas Epp und schlägt auf die Bande: "Wir brauchen noch ein Tor", schreit er. Und auf dem Feld kommt Christoph Westerthaler an den Ball.
… und sie kommen jetzt wieder mit Christoph Westerthaler in der zentralen Position…
Westerthaler ist erst in der 86. Minute ins Spiel gekommen. Ein Spiel, das sich als Einwechselspieler anfühlen muss, als würde man in einen reißenden Fluss geschubst. Zur Pause 0:0, dann Chen Yang kurz nach der Halbzeit zum 1:0, in der 68. Minute der Ausgleich für Lautern, zwei Minuten lang ist jede Hoffnung verloren. Aber dann Sobotzik. Gebhart ins kurze Eck. Schneider per Direktabnahme. 4:1. In wenigen Minuten scheint das Schicksal gekippt, die Fußballgötter ein Einsehen zu haben, das rettende Ufer wieder in greifbarer Nähe. Wenn nur noch dieses eine Tor…
… Nur Sforza hat er noch vor sich…
Und so schnurrt alles auf diese eine Minute zusammen. Ein ganzes Jahr, eine ganze Saison - plötzlich abhängig von einer einzigen Aktion. Und was für eine Saison das war. Das Aufstiegsteam, eine verschworene Truppe, aber kaum für die Bundesliga verstärkt. Dann Gernot Rohr, der "eiskalte Killer", der in den Verein kam, um Trainer Horst Ehrmanntraut abzusägen. Dessen überforderter Nachfolger Reinhold Fanz, die ganze Saison in den Binsen.
Schließlich Jörg Berger, der die Eintracht schon einmal rettete. Drei Siege aus den drei Spielen zuvor, Totgesagte leben länger, aber das alles ist nichts wert, wenn dieses eine Tor nicht mehr fällt. Wenn dieser springende Zufall namens Ball seine Richtung ändert, hierhin oder dorthin. Westerthaler zieht nach innen, kommt im Zweikampf mit Ciriaco Sforza zu Fall, der Ball springt an Sforzas Bein, zurück zum strauchelnden Westerthaler – und in den Lauf von Fjörtoft.
…Dann ist es Fjörtoft. Der ist im Strafraum…
Fjörtfoft nimmt den Ball mit dem rechten Fuß an. Bis zum Tor sind es noch sechzehn Meter, aber FCK-Torwart Andreas Reinke stürmt wie wild aus seinem Kasten. Der Winkel könnte besser sein, Fjörtoft ist leicht links vom Elfmeterpunkt, Reinke macht sich groß, es ist eine 50/50-Situation. Das ganze Stadion hält die Luft an, kurz steht die Zeit still, in dieser Sekunde gibt es nur noch zwei mögliche Abzweigungen, die das Schicksal von hier aus nehmen kann: Wohl. Oder Wehe. Klassenerhalt. Oder Abstieg. Traum. Oder Trauma.
Die Spieler auf dem Platz und daneben, die Funktionäre in der Loge, die Fans auf den Tribünen, sie alle werden den Rest ihrer Leben entweder so oder so auf diese Situation blicken, und nur so. Ein wahrgewordenes Märchen. Oder ein Alptraum. Es gibt nur diese Extreme. Fjörtoft steigt mit dem rechten Bein über den Ball, Reinke geht seitlich zu Boden, mit dem linken schließt Fjörtoft ab.
… Und er trifft. Tooor, Toooor für die Frankfurter Eintracht, 5:1.
Auf den Rängen brechen alle Dämme. Auf dem Platz wissen die Spieler gar nicht, wohin mit sich. An der Seitenlinie sieht Jörg Berger auf die Uhr, als würde die ihm versichern können, dass das gerade wirklich passiert ist. Es ist eine Explosion, nicht weniger. Ein emotionaler Urknall. Eintracht Frankfurt hält die Klasse, Nürnberg steigt ab.
Im Waldstadion herrscht die absolute Ekstase. Die Fans stürmen den Platz, lassen die Spieler hochleben, die wiederum verteilen im Innenraum und in den Katakomben Sektduschen. Es ist der prägende Moment für eine ganze Generation von Fans. Jeder von ihnen wird jederzeit sagen können, wo er in dem Moment war, als Jan-Aage Fjörtfoft vor Andreas Reinke auftauchte. Und die irrwitzigste, wahnwitzigste, unglaublichste aller Entscheidungen traf.
... Herrjeh! Welche Leistung!…
Später sitzt Fjörtoft in der Kabine. Um ihn herum wird unablässig gefeiert, Bierduschen, Jubel, draußen die tobenden Fans. Später wird Fjörtfoft noch mit Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth tanzen, er wird sagen: "Jörg Berger hätte auch die Titanic gerettet", wird der Spaßvogel sein, der er immer ist.
Aber in diesem Moment ist er kurz ganz bei sich, in sich gekehrt, ein Moment der Klarheit. "Du musst verrückt sein, dass du einen Übersteiger gemacht hast in der Situation", schießt es Fjörtoft durch den Kopf. Dann wird ihm ganz anders. "Stell Dir vor, du hättest nicht getroffen."