Tottenham-Fan und Autor im Interview "Selbst die Achtjährigen lachen über uns"

Am Donnerstag trifft Eintracht Frankfurt in der Europa League auf Tottenham. Der einst stolze Traditionsklub durchlebt gerade eine schwere Krise. Fan und Autor Paolo Hewitt spricht über den umstrittenen Klubbesitzer, den möglichen Trainerwechsel und Timo Werner.

Pedro Porro, Heung-min Son und Lucas Bergvall sind nach der Pleite in Everton frustriert.
Pedro Porro, Heung-min Son und Lucas Bergvall sind nach der Pleite in Everton frustriert. Bild © Imago Images

Paolo Hewitt ist ein in London lebender Autor, der vor allem für seine Bücher über Musik von David Bowie bis Oasis gefeiert wurde. Außerdem veröffentlichte er die Biografie des früheren Profis Robin Friday und ein Werk über Fußball und Mode. Hewitt ist seit Kindheitstagen glühender Fan von Tottenham und spricht hier über den Europa-League-Gegner der Eintracht.

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hessenschau.de: Herr Hewitt, Tottenham dümpelt gerade in der Premier League im Niemandsland, der Trainer steht in der Kritik, die Fans gehen gegen den Klubboss Daniel Levy auf die Straße. Was ist da los?

Hewitt: Ein absolutes Desaster. Schon 1984 soll der ehemalige Klubboss Keith Buckinshaw gesagt haben: "Das hier war früher mal ein Fußballklub." Und genau das trifft es heute auch. Letztens sah ich in London einen Bus mit Werbung für unser Stadion herumfahren. Da wurden Konzerte von Beyoncé oder Go-Kart-Rennen angepriesen, der Fußball aber wurde mit keiner Silbe erwähnt. So viel zur Bedeutung vom neuen Tottenham-Stadion! Es ist super, ein schönes Haus zu haben, aber was nützt es, wenn du keine Möbel kaufst.

hessenschau.de: Sie spielen auf den Sparkurs des Besitzers an?

Hewitt: Tottenham hat gerade die aktuellen Zahlen veröffentlicht: Der Umsatz sank von 549 auf 528 Millionen Pfund, aber wohin fließt das ganze Geld? Wir geben von allen großen Teams am wenigsten für Spielergehälter aus und das macht sich auch auf dem Rasen bemerkbar. Daniel Levy führt diesen Verein wie ein Investment, das er gewinnbringend wieder veräußern will. Nun heißt es aber, er wolle demnächst den Klub verkaufen und gleichzeitig als Entscheider an Bord bleiben - das wäre das Schlimmste aus beiden Welten!

hessenschau.de: In England wird Tottenham aufgrund seiner mangelnden Erfolge verspottet.

Hewitt: Ja, wir warten seit 2008 auf einen Pokal, seit 1961 auf eine Meisterschaft. Kurioserweise wird kein anderer Verein damit aufgezogen, sondern immer müssen wir herhalten. Letztens habe ich meinen achtjährigen Sohn von der Schule abgeholt. In seiner Klasse sind natürlich einige Arsenal-Fans. Sie sagten zu mir: "Was ist das wertvollste an Tottenhams Trophäenschrank? Nur der Schrank." Selbst Achtjährige lachen uns aus.

hessenschau.de: In diesem Jahr bliebe zumindest noch die Europa League. Wird Tottenham nun alles auf diesen Wettbewerb setzen?

Hewitt: Total. Sie können nicht mehr nach oben und auch nicht mehr absteigen. Ange (Postecoglou, der Trainer, die Red.) sagt zwar, dass sie sich auf jedes einzelne Spiel fokussieren. Aber es geht jetzt nur noch um den Gewinn der Europa League. Man darf ja auch nicht vergessen, dass damit der Einzug in die Champions League in der kommenden Saison verbunden wäre.

hessenschau.de: Wie sehen Sie den Trainer?

Hewitt: Ich glaube, dass er so oder so im Sommer entlassen wird. Es gibt bereits Gerüchte um den Trainer von Bournemouth oder Fulham als Nachfolgekandidaten. Aber ganz ehrlich: Ange zu entlassen, das wäre in meinen Augen eine Schande. Die Leute vergessen, welche spielerische Entwicklung wir genommen haben. Unter Jose Mourinho hatten wir sechs gute Monate, der Rest war erbärmlich. Mit Antonio Conte als Trainer haben wir zumindest Arsenal 3:0 geschlagen, aber die gesamte Taktik basierte allein darauf, den Ball lang auf Harry Kane zu schlagen. Ange hat einen neuen Stil etabliert, beispielsweise die Außen ins Zentrum gezogen.

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hessenschau.de: Doch gerade wird er auch für die vielen Verletzungen und den zu riskanten Fußball kritisiert. Zu Recht?

Hewitt: Er ist stur, ja. 2023 hat Tottenham auswärts bei Chelsea gespielt und nach zwei Platzverweisen weiter das Heil in der Offensive gesucht. Mit neun Spielern, das muss man sich vorstellen! Ich glaube, Ange würde auch mit fünf Leuten weiter angreifen. Sein Stil sorgt natürlich für Verletzungen und Ausfälle, das war schon in seiner Zeit bei Celtic so. Aber was ich nicht verstehe: Er ist nun schon einige Zeit da und die Spieler oder der Staff müssten sich doch an seine Herangehensweise gewöhnt haben.

hessenschau.de: Vermissen die Spurs noch immer Harry Kane zu sehr?

Hewitt: Und wie! Ich hätte nur diesen einen Wunsch, dass Kane noch eine weitere Saison geblieben wäre und unter Ange eine Spielzeit verbracht hätte. Dann hätten wir vermutlich die Liga gewonnen. Kane hätte bei diesem Fußball nur im Strafraum stehen und immerzu den Fuß hinhalten müssen. Aber dafür haben wir schließlich Richarlison bekommen, der alle drei Spiele verletzt ausfällt ...

Paolo Hewitt mit Mütze vor einer Mauer
Paolo Hewitt Bild © privat

hessenschau.de: Wie sehen Sie Timo Werner?

Hewitt: Schlimm, ganz schlimm. Auf der Außenbahn gefiel er mir noch verhältnismäßig gut, aber im Zentrum und gerade wenn er alleine auf den Torwart zuläuft, ist es nicht mitanzusehen. Ich glaube, er hat erst zwei Tore für Tottenham geschossen, das sagt schon allles.

hessenschau.de: Und Mathys Tel?

Hewitt: Schwierig. In seinem ersten Spiel hat er direkt getroffen, danach tut er sich schwer. Ange spricht in den höchsten Tönen von ihm, doch zuletzt setzte er ihn auf die Bank.

hessenschau.de: Welche Spurs-Spieler machen Ihnen denn Hoffnungen?

Hewitt: Wenn man sich den Kader so anschaut, gibt es schon eine Reihe von Hoffnungsträgern. Lucas Bergvall ist erst 19 und trotzdem schon so abgeklärt, wie er Pässe spielt und die Gegner stehen lässt. Letztens hat auch Pep Guardiola gesagt, dass Bergvall ihnen im Spiel die größten Probleme bereitet hätte. Dominic Solanke arbeitet vorne unermüdlich, "Sonny" (Heung-min Son, die Red.) kann immer noch Extraklasse sein. Er ist unser Kapitän, aber manches Mal einfach zu nett. Wer will einen Kapitän, der nur nett ist?! Du brauchst jemanden, der mehr dazwischen haut. Rodrigo Bentancur gefällt mir im Mittelfeld, der Torhüter Guglielmo Vicario hat Fähigkeiten. Insgesamt kann diese Truppe ein Rolls Royce sein, wenn es gut läuft. Im schlechten Fall bekommst du den Motor nicht an.

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Collage aus einem Adler und einem Hahn, im Hintergrund ein Fußballstadion. Logo: Heimspiel, Text: Hot, hot, Hotspur
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hessenschau.de: Wo liegen die Schwachpunkte?

Hewitt: Schon in der Defensive. Vor allem die rechte Seite hat Mängel, ich denke, die Eintracht wird dort angreifen. Pedro Porro hat oft auf dieser Position gespielt und er ist defensiv einfach zu schwach.

hessenschau.de: Was können die Eintracht-Fans beim Besuch erwarten?

Hewitt: Ich stehe im "South Stand", der als "The Wall" in Anlehnung an die Dortmunder Tribüne getauft wurde. Wenn Tottenham richtig gut loslegt, kann es schon laut werden. Aber seien wir ehrlich: Sollte die Eintracht ein frühes Tor schießen, wird es leise bei uns. Außerhalb des Stadions kann ich empfehlen, den "Mr. Memorabilia" zu besuchen. Wenn man von der U-Bahn kommt, die Tottenham High St langläuft und dann rechts einbiegt, steht er da und verkauft alles Mögliche. Im Stadion wirbt der Klub für die längste Bar Europas mit Bier bis zu sieben Pfund, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Frankfurter dorthin gelangen. Wichtig ist noch: Du kannst im Stadion nicht mit Bargeld bezahlen.

hessenschau.de: Wie geht das Spiel aus?

Hewitt: Wir müssen mindestens mit zwei Toren Unterschied ins Rückspiel gehen, weil die Eintracht für ihre Atmosphäre im eigenen Stadion bekannt ist und den großen Vorteil hat, das Rückspiel daheim auszutragen. Ich tippe also voller Optimismus auf ein 2:0 für Tottenham.

Das Gespräch führte Ron Ulrich.

Quelle: hessenschau.de