Handballer Timo Kastening im Interview (2) "Dieser Fehler wird mir zu tausend Prozent nicht mehr passieren!"
Timo Kastening gilt als einer der Leistungsträger bei der Heim-EM der deutschen Handballer. Im Interview spricht er über das anstehende Rekordspiel, den Rapport von Dieter Hecking und seine Alkoholfahrt.
Im ersten Teil des großen Interviews mit Timo Kastening spricht er über die Saison mit der MT Melsungen, hier geht es um die Nationalmannschaft und seine persönlichen Tiefpunkte.
hessenschau.de: Timo Kastening, wir haben Ihnen eine Sprachnachricht von Fußball-Trainer und -Funktionär Dieter Hecking zur anstehenden Heim-EM mitgebracht. (Kastening hört zu) Hecking am Ende: "Du weißt ja, die Krone ist immer der Titel."
Kastening: Na, wenn der Dieter das sagt, dann ist das so. Wenn ich es aber sage, wäre es vermessen. Wir haben eine schwere Gruppe und wollen auch erstmal in die Hauptrunde einziehen, die dann auch nicht ohne wäre. Dieter soll mit Nürnberg erst einmal aufsteigen, dann sprechen wir noch mal.
hessenschau.de: Hecking soll Ihnen als Kind einmal die Ohren lang gezogen haben.
Kastening: Familie Hecking und wir waren Nachbarn auf unserem Dorf in Riepen. Mit seinen Söhnen Aaron und Jonas bin ich bis heute sehr gut befreundet. Wir waren damals so zwischen acht und zwölf Jahre alt, so genau weiß ich es nicht mehr. Auf jeden Fall spielten wir noch mit meinem Bruder zu viert hinten auf einer Wiese Fußball, und der Verlierer sollte eine Packung Zigaretten kaufen und sich eine anstecken, so als Mutprobe. Wir haben uns also hinter die Hecke gesetzt, als auf einmal der Dieter da stand...
hessenschau.de: Wenn Hecking die Augenbrauen zusammenzieht, kann ein Blick von ihm ja reichen.
Kastening: Genau. Als kleiner Junge ist das dann angsteinflößend. Wir sind auch alle wortlos aufgestanden, weil wir wussten, was die Stunde geschlagen hatte. Kurz darauf gab es zu Hause den Rapport.
hessenschau.de: Mit wem außer Hecking tauschen Sie sich heute noch regelmäßig aus?
Kastening: Am meisten natürlich mit Familie und Freunden, aber klar, auch mit Dieter und seinen Söhnen, von denen einer auch zum EM-Eröffnungsspiel kommen wird. Außerdem verstehe ich mich gut mit Hans Detsch und Joel Keussen von den Kassel Huskies, und mit dem früheren Hannover 96-Spieler Hendrik Weydandt.
hessenschau.de: Sie sprachen das Eröffnungsspiel an, vor über 50.000 in Düsseldorf. Träumen Sie schon davon?
Kastening: Noch nicht, aber man versucht es zu visualisieren. Da kommt schon Vorfreude auf. Wenn mir einer als Kind gesagt hätte, dass ich mal vor so einer Kulisse für Deutschland bei einer Heim-EM spielen könnte, hätte ich es nicht geglaubt. Wir sollten es aber eben mit Vorfreude angehen und nicht als Druck empfinden, denn das Spiel bleibt das Gleiche, egal ob vor 10 oder 50.000 Zuschauern.
hessenschau.de: Bei der Nationalmannschaft hat es einen Umbruch gegeben. Wie würden Sie das Team charakterisieren?
Kastening: Als ich zum Team kam, hatten wir mit Uwe Gensheimer, Hendrik Pekeler, Patrick Wiencek, Jogi Bitter oder Steffen Weinhold noch viele gestandene Weltklasseleute dabei. Jahrelang haben wir über den Umbruch gesprochen, ihn nun aber vollzogen. Nun sind viele junge Leute dabei, die richtig Bock haben, gierig sind und den Stamm über Jahre prägen können. In jedem Lehrgang wird wie wild trainiert, der Konkurrenzkampf ist sehr hart, gesund und ehrlich. So muss es sein.
hessenschau.de: Vor dem Training tritt meist Jung gegen Alt im Fußball an. Sind Sie mit 28 schon bei den Alten?
Kastening: Ja, beim vorletzten und letzten Lehrgang habe ich erstmals bei den Alten gespielt. Das ist ganz nett, weil ich dann mit meiner kompletten Kartenrunde antrete und gegen das junge Gemüse brillieren kann.
hessenschau.de: Aber mangelt es der Nationalmannschaft nun nicht an Erfahrung der Alten?
Kastening: Das ist ja das Schöne am Journalismus: Du kannst es danach so bewerten, wie du es brauchst. Erfahrung ist gut und wichtig für einen ruhigen Kopf in der Crunch Time. Auf der anderen Seite machst du dir in jungen Jahren auch nicht so viele Gedanken. Es wird spannend sein, wie wir in solchen engen Situationen reagieren und welche Entscheidungen wir treffen.
hessenschau.de: Ein alter Haudegen ist Trainer Alfred Gislason. Bei der WM im vergangenen Jahr sagte er in einer Auszeit sinngemäß: "Macht, was ihr wollt!" Hat er sich verändert?
Kastening: Das war ein schöner Aufhänger für so eine Annahme. Dieses Spiel war aber entschieden, glaube ich. Ich möchte ihn mal sehen, wenn wir kurz vor dem Ende zurückliegen (lächelt). Generell ist er gelassener geworden, das stimmt schon. Alfred ist ein super Typ, eine Persönlichkeit. Einer, der trotzdem durch seine Autorität einen guten Mix findet. Ich bin ein Freund davon, wenn der Chef autoritär ist. Flache Hierarchien gut und schön, aber jemand muss am Ende die Verantwortung übernehmen.
Vielleicht können wir einen ähnlichen Hype entfachen wie die Basketballer. Zitat von Timo KasteningZitat Ende
hessenschau.de: Worauf können sich Sportfans bei dieser EM freuen?
Kastening: Wir werden den Handball mit all dem präsentieren, was ihn ausmacht. Es wird eine große Party, ohne Gewalt, keine Polizei, die Mannschaft wird sich den Allerwertesten aufreißen. Es wird ein großes Miteinander werden. Vielleicht können wir einen ähnlichen Hype entfachen wie die Basketballer.
hessenschau.de: Sie sprechen von "keiner Gewalt", haben aber einen Riesen-Cut auf der Stirn. Klären Sie die LeserInnen noch mal auf!
Kastening: Beim vorletzten Auswärtsspiel in Eisenach hat mich Peter Walz aus Versehen mit dem Ellenbogen im Gesicht getroffen. Es hat richtig stark geblutet, aber zum Glück waren das Jochbein oder die Augenhöhle nicht betroffen. Es sah wilder aus, als es war. Am Ende bleibt nur eine kleine Potter-Narbe.
hessenschau.de: Viel schlimmer war Ihre Verletzung im April 2022. Sie zogen sich einen Kreuzbandriss zu. Nun sind Sie wieder Leistungsträger im Verein und in der Nationalmannschaft. Wie ging das so schnell?
Kastening: Ich bin froh über diese Entwicklung. Vor der Verletzung hatte ich schon die schlechtesten Werte in meiner Karriere, danach war ich zehn Monate durch die Verletzung raus. Ich habe gemerkt, wie schnell die Karriere vorbei sein kann und man nicht mehr im Rampenlicht steht. Das hat meine Sinne geschärft, um an mein früheres Leistungsniveau anzuknüpfen. Dafür habe ich einen guten Mix aus Lockerheit und harter Arbeit gefunden.
hessenschau.de: Neben der Verletzung haben Sie kürzlich im Magazin "Bock auf Handball" über einen anderen Tiefpunkt gesprochen. Im Januar 2022 wurden Sie mit 1,6 Promille am Steuer von der Polizei angehalten. Was ist an diesem Abend passiert?
Kastening: Wir waren gerade von der EM aus Budapest zurückgekehrt, ich hatte zwei Wochen durch Corona im Hotel verbracht. Es war einfach so, dass ich zu dieser Zeit ein Stück weit meine Regeln selbst bestimmt habe. Ich habe für mich selbst entschieden, was richtig und was falsch ist – im Umgang mit engen Vertrauten und ohne das Gesetz im Kopf zu haben. So war es auch an diesem Abend. Erst als die Polizei kam, wusste ich: Jetzt bist du dran! In der Nacht habe ich meine Mutter angerufen und ihr alles gebeichtet. Am nächsten Tag meinte sie zu mir: "Jeder darf Fehler machen, nur wenn du den gleichen Fehler häufiger begehen solltest, dann wärst vielleicht ein kleines Dummerchen.“ Ich bin wahrlich nicht stolz auf diesen Fehler und bin mir tausend Prozent sicher, dass er mir nicht mehr passieren wird.
hessenschau.de: Wem haben Sie noch von der Fahrt berichtet?
Kastening: Meinen engsten Freunden, dem Klub, dem DHB. Viele waren überrascht, weil ich als Sympathieträger und kleiner Freudemann galt. Der Tenor war: Das hätten wir nicht erwartet! Wer mich kennt, weiß, dass ich gerne Party mache und auch mal einen lostrete. Man sollte nur wissen, wann und wie und welche Konsequenzen es hat. Auch und gerade am Steuer.
hessenschau.de: Warum waren Ihnen die Regeln egal?
Kastening: Im Nachhinein war es ein Mix. Ich war sportlich nicht zufrieden mit mir, war persönlich nicht auf der Höhe, privat war einiges los, zwei, drei andere Gründe. Ich habe das auch später mit einem Psychologen aufgearbeitet. Jeder Mensch macht einmal eine harte Zeit durch, aber es rechtfertigt natürlich nicht mein Verhalten. Die Verletzung und die Alkoholfahrt haben meine Sinne geschärft, das waren "turning points". Ich weiß nun, was ich will. Ich weiß, dass meine Karriere endlich ist. Das zu sagen oder es zu erleben – darin besteht schon ein Unterschied. Vorher war ich nie ohne Handball, dann habe ich erlebt, wie es ist, ohne meine Passion zu sein. Jetzt schätze ich mehr wert, was ich habe, und gebe jeden Tag 100 Prozent.
hessenschau.de: Welche Ziele haben Sie fürs neue Jahr?
Kastening: Spaß an der Freude haben. Es ist ein Riesenglück, dass ich das tun darf, was ich liebe. Deswegen die Devise: Jeden Tag alles geben, reinhauen, gesund bleiben, Spaß haben und schauen, was wird.
Das Gespräch führte Ron Ulrich.