10 Jahre Kassel Airport Kaum Passagiere - aber jetzt neue Hoffnung
Der Kasseler Regionalflughafen macht seit der Eröffnung im Jahr 2013 Verluste. Seine Befürworter prophezeien ihm trotzdem eine rosige Zukunft.
Mit geschlossenen Augen stehen sie im Terminal des Kassel Airport, atmen tief ein und langsam wieder aus. Auf der Suche nach Entspannung hat es sie hierher verschlagen. Nicht um die Flucht vor dem Alltagsstress Richtung Urlaub anzutreten, sondern um genau hier, in diesem Moment, zu sich zu finden. Zwischen Check-in-Schaltern, Stuhlreihen und Wegweisern. Auf ihren Yoga-Matten.
Reisende, die diese Ruhe stören könnten, gibt es an diesem Abend nur wenige. Jana Maria Schaefers ist hier mit ihren Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern so gut wie allein. Ein Yoga-Kurs am Flughafen mag ungewöhnlich erscheinen. Am Kassel Airport nicht. Es ist eine Möglichkeiten, das oft gähnend leere Gebäude zu nutzen.
Nur wenige Flieger pro Woche heben von dem Flughafen in Calden (Kassel) aus ab. Im Sommer startet die Airline Sundair Richtung Mallorca, Ägypten, Kreta und in die Türkei, dazu geht ein Flug pro Woche nach Usedom und Sylt, zwei Maschinen nach Südtirol. Im Winter ist die Zahl der Verbindungen noch geringer.
Die Passagierzahlen sind entsprechend überschaubar und bleiben weit hinter dem zurück, was dem Flughafen einmal prophezeit worden war: 660.000 Fluggäste jährlich. Im besten Jahr, 2018, zählte der Kassel Airport knapp 132.000 Passagiere - weniger als der Frankfurter Flughafen an einem durchschnittlichen Tag im selben Jahr.
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Millionenverluste - mit Steuergeld ausgeglichen
Stille statt Betriebsamkeit - für einen Flughafen alles andere als ein Qualitätsmerkmal. Das schlägt sich auch in der Bilanz nieder. Jedes Jahr macht der Kassel Airport Verluste in Millionenhöhe. Zuletzt waren es gut fünf Millionen Euro, in den Jahren zuvor sogar bis zu acht Millionen Euro. Auch hier lagen die Befürworter weit daneben: Bis 2020 sollte der Flughafen kostendeckend arbeiten, so die Hoffnung bei der Eröffnung am 4. April 2013.
Für die Verluste müssen die Anteilseigner aufkommen. Neben dem Land Hessen sind das die Stadt und der Landkreis Kassel sowie die Gemeinde Calden. Der Flughafen ist damit vollständig in öffentlicher Hand - so dass letztlich der Steuerzahler das Defizit bezahlt.
Der Bund der Steuerzahler kritisiert den Airport deswegen schon seit Jahren, und lässt zum Jubiläum nicht nach. "Es kann kein 'Weiter so' geben, so dass Jahr für Jahr Millionen vom Steuerzahler in diesen Flughafen fließen, damit - um es mal deutlich zu sagen - letztlich vor allem Urlaubsreisen in die Sonne finanziert und subventioniert werden", kritisiert Matthias Warnecke, der das finanzwissenschaftliche Institut beim Bund der Steuerzahler leitet.
Für ihn ist das Problem keines, das Calden exklusiv betrifft. "Wir meinen, dass es deutlich zu viele Regionalflughäfen gibt - mit der Folge, dass es pro Regionalflughafen zu wenige Passagiere gibt." Gerade in Nordhessen zeigt sich das deutlich: Der Flughafen Paderborn-Lippstadt ist 70 Kilometer entfernt, im Umkreis von gut 120 Kilometer liegen mit Hannover, Erfurt und Dortmund drei weitere Flughäfen.
Argument: Stärkung der Region
Trotz dieser hohen Flughafendichte fiel die Entscheidung pro Kassel Airport. Schon Ende der 1990er entstand die Idee, den damaligen Verkehrslandeplatz Calden auszubauen. Für Ulrich Spengler von der Industrie- und Handelskammer Kassel-Marburg war der Flughafen 25 Jahre lang zentrales Thema. Er hat Ideen-Papiere und Konzepte dazu verfasst, war später einer von drei Geschäftsführern.
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Ausschlaggebende Argumente für den Kassel Airport waren aus seiner Sicht, dass der Verkehrslandeplatz an seine Grenzen geriet und es einen Investitionsstau gab. Dazu kam die Angst, dass Unternehmen abwandern könnten.
"Was immer im Raum stand: Dass die Firmen, die intensiver auf Geschäftsverkehre und auf den Flughafen angewiesen sind, immer wieder gesagt haben: 'Bei einer nächsten Investitionsentscheidung müssen wir schon sehr genau schauen, ob wir in Kassel bleiben, wenn der Flughafen nicht entsprechend leistungsfähig ist.'"
Eine notwendige Investition also in die Wirtschaft und die Zukunft der Region? So hat es auch der damalige Ministerpräsident Roland Koch (CDU) gesehen, und so sieht er es heute noch. "Ich glaube, dass in der historischen Perspektive für die Chancen, die Kassel hat, die Existenz dieses Flughafens sehr wichtig ist. Ich persönlich habe die nie daran gemessen, ob zwei Flugzeuge mehr nach Mallorca fliegen oder nicht - das Wichtige sind Unternehmen, Kongresse, Tagungen, Frachtverkehr."
Die Frage, ob es Regionalflughäfen geben müsse oder nicht, sei eine fast philosophische geworden, so Koch. "Zur Realität gehört: Es gibt sie und es wird sie auch weiter geben. Und am Ende werden sich Regionen darin unterscheiden, ob sie in dieser Form erreichbar sind."
Gegner warnten vor falschen Prognosen
Doch nicht alle haben damals diese Notwendigkeit gesehen, manch einer warnte sogar eindringlich vor dem Großprojekt. Unter den Gegnern war auch Hartmut Bossel, Professor im Ruhestand und selbst Luftfahrtingenieur. Im Jahr 2002 veröffentlichte er ein privates Gutachten und kam darin zu dem Ergebnis, dass die bis dato angestellten Prognosen völlig falsch seien.
Die Baukosten des Flughafens seien zu niedrig angesetzt, die erwarteten Charterflugzahlen viel zu hoch. "Hier ist schlicht und einfach vieles vergessen worden, vieles falsch berechnet worden", sagt Bossel. Er kam auf ein Defizit von 20 Millionen Euro pro Jahr. Weitere Gutachten, zum Beispiel von der Deutschen Bank Research, zeichneten ein ähnlich negatives Bild von Regionalflughäfen im Allgemeinen.
Trotz der Warnungen und Widerstände eröffnete der Kassel Airport im April 2013, nach zwei Jahren Bauzeit und Kosten in Höhe von 280 Millionen Euro. 220 Hektar Wald und Äcker mussten weichen. Heute arbeiten dort 155 Menschen, rund die Hälfte von ihnen in Teilzeit.
Insgesamt, so rechnet es Finanzminister Michael Boddenberg (CDU) vor, schaffe der Flughafen mit den dort angesiedelten Unternehmen wie Airbus und Piper Arbeitsplätze für 1.100 Menschen. Manche der Firmen siedelten sich allerdings schon zu Zeiten des alten Verkehrslandeplatzes an.
Zu beziffern, wie stark der Bau des Regionalflughafens der Wirtschaft zugute gekommen ist, ist daher schwer. Der hr befragte die 70 größten Arbeitgeber des IHK-Bezirks Kassel-Marburg zur Bedeutung des Flughafens, rund die Hälfte antwortete.
Drei der Unternehmen gaben an, dass sie den Flughafen für einige Flüge im Jahr nutzen. Gerade mal ein Unternehmen nutzt ihn mehrmals im Monat. Die Existenz des Flughafens, so das Ergebnis der Umfrage, spielte bei wirtschaftlichen Entscheidungen für kein einziges dieser Unternehmen eine Rolle.
Boddenberg: "Status quo akzeptieren"
Der Finanzminister spricht trotz allem von einem "wirtschaftlich vertretbaren Projekt" und davon, dass der Flughafen ein Steueraufkommen von 50 Millionen Euro im Jahr generiere - zumindest vor der Corona-Pandemie.
Zum Jubiläum wünscht er sich deshalb ein Ende der Grundsatzfrage. "Der Flughafen ist gebaut, es ist eine politische Entscheidung von vor 20 Jahren", so Boddenberg. "Mir wäre es lieb, wenn man den Status quo einfach akzeptiert und gemeinsam darauf hinwirkt, dass sich dieser Flughafen weiterentwickelt."
Ähnlich sieht es auch Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir, auch wenn er dem Projekt von Beginn an kritischer gegenüberstand: "Wir müssen jetzt einfach mit der Situation umgehen, wie sie ist." Es hätte wahrscheinlich sehr viel bessere Möglichkeiten gegeben, dieses Geld auszugeben, so der Grünen-Politiker: "Nichtsdestotrotz ist er jetzt da." Immerhin sei es in den vergangenen Jahren gelungen, das jährliche Defizit deutlich zu senken.
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Eine Rückstufung zum Verkehrslandeplatz - da sind sich beide Politiker einig - wäre keine lohnende Alternative. "Wir haben 2017 sehr genau untersuchen lassen, wie viel Geld man damit einsparen könnte", so Al-Wazir: "Das waren keine relevanten Summen." Denn das meiste Geld sei in den Bau investiert worden. Auch eine Schließung lehnen beide ab.
29.000 Flugbewegungen gebe es jährlich, so Boddenberg. "Das zeigt, welche Dimension der Luftverkehr auch für Nordhessen hat." Häufig werde übersehen, dass auch die Geschäfts- und Frachtfliegerei sowie Flugschulen in Calden eine Rolle spielten.
Ein Gewerbegebiet als Rettungsanker
Doch wie kann die Zukunft eines Flughafens aussehen, der so hinter den einstigen Erwartungen zurückbleibt und jedes Jahr Verluste einfährt? Für den Bund der Steuerzahler ist die Antwort naheliegend. "Am Ende des Tages muss man sich eingestehen, dass dieser Flughafen niemals profitabel sein wird", so Matthias Warnecke. "Dann muss man auch die Reißleine ziehen. Und das kann nur heißen - wenn man keine Alternativen findet - diesen Flughafen zu schließen."
Um die Suche nach Alternativen ist man in Calden und auch Wiesbaden bemüht, und zeigt sich zuversichtlich, bereits eine lukrative Möglichkeit gefunden zu haben. Auf dem Gelände des ehemaligen Verkehrslandeplatzes soll ein riesiges Gewerbegebiet entstehen. Bis zu 68 Hektar - etwa 95 Fußballfelder - stehen dafür zur Verfügung.
Spatenstich für das Projekt war im vergangenen November. Die Flughafen Kassel GmbH wird das Gelände Stück für Stück an die Hessische Landgesellschaft verkaufen. Die ist mehrheitlich im Besitz des Landes und soll das Gebiet erschließen und vermarkten. Dafür werden Kosten von mehr als 30 Millionen Euro veranschlagt.
Locken will man die Unternehmen mit der Nähe zum Flughafen, einer Helikopter-Landefläche und einer grünen Energieversorgung. Der Finanzminister ist positiv gestimmt, ebenso Flughafenchef Lars Ernst. "Die Entwicklung des Gewerbegebiets wird die Kosten für die Erschließung wieder reinbringen, davon gehen alle Beteiligten aus", sagt er.
Anfragen gebe es schon, Namen will Ernst aber keine nennen. Man könne wegen der nötigen Haupterschließungsarbeiten erst Ende des Jahres in konkrete Gespräche gehen.
Millionenhohes Defizit in Calden
Auch der Caldener Bürgermeister Maik Mackewitz (parteilos) setzt große Hoffnungen in das Projekt. Zum einen in steigende Steuereinnahmen, zum anderen in neue Arbeitsplätze. Bisher seien durch den Flughafen einige hundert Stellen hinzukommen, mit dem Gewerbegebiet aber werde "richtig Schwung aufgenommen", prognostiziert er.
Der kleinen Gemeinde mit ihren 7.500 Einwohnerinnen und Einwohnern wäre es zu wünschen. Ihre sechs Prozent Anteil am Flughafen kosteten sie in den ersten Jahren rund 1,1 Millionen Euro jährlich.
Kita-Gebühren und die Grundsteuer mussten erhöht werden, um das Loch im Haushalt zu stopfen. Die Schließung des Schwimmbads stand ebenso zur Diskussion wie die der Dorfgemeinschaftshäuser. Durch die Abgabe von drei Prozent der Anteile und eine finanzielle Unterstützung vom Land konnte Mackewitz die jährliche Belastung auf 400.000 bis 450.000 Euro senken.
Boddenberg: "Technologiepark der Zukunft"
Nicht nur auf dem Gewerbegebiet ruhen die Hoffnungen der Beteiligten. Finanzminister Boddenberg sieht auch im Bereich neue Technologien erhebliches Entwicklungspotenzial in Calden, zum Beispiel bei den Themen Wasserstoff-Antrieb oder synthetische Kraftstoffe.
"Für mich wird Kassel-Calden zunehmend ein Technologiepark der Zukunft", sagt der Finanzminister. Er sehe eine Chance, dass Nordhessen an Technologie-Sprüngen massiv mitwirken und davon auch profitieren könne. Das biete sich an, dank der Ansiedlung großer Unternehmen wie Airbus und vieler Zulieferer. An großen Verkehrsflughäfen könne man das teilweise nicht erproben.
Auch bei Flughafen-Chef Ernst regt der Blick auf die technologischen Entwicklungen Zuversicht - allerdings in anderer Weise. "Wir werden relativ zeitnah sehen, dass sich im Bereich der Luftfahrt etwas verändern wird." Es werde Flugzeuge mit kleineren Kapazitäten geben, erklärt er, die dank neuer Antriebstechniken günstiger fliegen könnten.
Regionalflughäfen würden damit wieder an Bedeutung gewinnen, so seine Erwartung. "Die technischen Entwicklungen sind da, sie sind nur im Moment noch nicht marktfähig."
Von den ansässigen Luftfahrtfirmen erhofft man sich ebenfalls einen Aufschwung. So hat Airbus Helicopters Deutschland kürzlich das benachbarte Unternehmen ZF Luftfahrttechnik übernommen.
Die rund 600 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Calden warten unter anderem Polizei- und Bundeswehrhubschrauber. Durch die Investitionen in die Bundeswehr könnte die Zahl der Aufträge deutlich steigen. Dass Airbus weiteren Platz braucht, will das Unternehmen aber noch nicht versprechen.
Stagnation als Wettbewerbsvorteil
Sich neben den Passagierflügen weitere Standbeine zu suchen, ist eine durchaus sinnvolle Strategie - nicht nur wegen der ausbleibenden Fluggäste. Denn die EU-Kommission hat angekündigt, Subventionen für Regionalflughäfen zu untersagen.
Das Verbot sollte ursprünglich ab 2024 gelten, wurde aber wegen der Corona-Pandemie verschoben, voraussichtlich auf 2027. Mit den aktuellen Zahlen wäre der Kassel Airport fein raus, denn die Regelung soll erst ab 200.000 Passagieren pro Jahr greifen. Eine Steigerung der Zahlen könnte dem Flughafen dadurch sogar zum Verhängnis werden. Stagnation als Wettbewerbsvorteil.
Zehn Jahre nach der Eröffnung setzen die Beteiligten weiter auf das Prinzip Hoffnung. Die einstigen Erwartungen - hunderttausende Reisende und eine ausgeglichene Bilanz - haben sich nicht erfüllt.
Nun soll es ein riesiger Gewerbepark richten, und der Fortschritt in der Luftfahrt. "Hessens nördlichstes Tor zur Welt", wie der damalige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) den Flughafen bei der Eröffnung nannte, bleibt auch in seinem Jubiläumsjahr ein umstrittenes Projekt.
Sendung: hr-fernsehen, Abstürzen oder durchstarten? 10 Jahre Kassel Airport, 03.04.2023, 20.15 Uhr
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