Apothekensterben im Schwalm-Eder-Kreis Arzneimittelversorgung auf dem Land wird immer schlechter
Immer mehr Apotheken in ländlichen Gebieten finden keine Nachfolger und machen dicht. Das bedeutet eine schlechtere Arzneimittelversorgung vor Ort. Der Hessische Apothekerverband warnt vor einem weiteren Rückgang.
Am Mittwoch war Nils-Steffen Grönigs Apotheke in Felsberg-Gensungen geschlossen, denn Grönig nahm an der bundesweiten Protestkundgebung der Apotheker in Dortmund teil. Im Gegensatz zu anderen Apotheken im Schwalm-Eder-Kreis war das Geschäft aber nur an diesem einen Tag zu. Immer mehr Kollegen in der Umgebung machen komplett dicht, weil sie in Rente gehen und keinen Nachfolger finden.
Für Grönig ist das ein Warnsignal. Er sagt, das habe Folgen vor allem für die Menschen auf dem Land: "Je mehr Apotheken schließen, desto schlechter wird die Versorgung." Gerade im ländlichen Bereich würden dadurch die Wege für Patienten länger, um an benötigte Medikamente zu kommen.
Halbe Million Euro Startkapital für eigene Apotheke
Dass immer weniger Pharmazeuten den Sprung in die Selbstständigkeit wagen, kann Grönig verstehen. Er stammt aus einer Apotheker-Familie und führt sein Geschäft mit zehn Mitarbeitern seit zehn Jahren - in dritter Generation. Ohne diese gewachsene Tradition hätte er sich vermutlich lieber irgendwo anstellen lassen, sagt er.
Eine eigene Apotheke sei häufig einfach nicht rentabel. Man müsse dafür erst einmal viel Geld investieren, um einen Laden zu kaufen und das Inventar und den Lagerbestand zu übernehmen. Dazu seien die Rahmenbedingungen zunehmend unlukrativ geworden. Hinzu kämen viele nächtliche Notdienste.
10.000 Menschen zeigen sich in Unterschriftenaktion solidarisch
Um auf die Situation im Schwalm-Eder-Kreis aufmerksam zu machen, stieß Grönig mit Kollegen vor dem bundesweiten Protest eine Unterschriftenaktion an. 34 von 39 Apotheken im Landkreis machten mit, 10.000 Menschen unterschrieben schlussendlich, wie er berichtet.
Die Patientinnen und Patienten wollten nach Einschätzung des Hessischen Apothekerverbands (HAV) mit ihren Unterschriften zeigen, "dass die Uhr bei der wohnortnahen Arzneimittelversorgung der Menschen bereits auf fünf nach zwölf steht". Im Schwalm-Eder-Kreis gibt es in einigen Kommunen gar keine eigene Apotheke mehr.
Die Liste wurde mit einem offenen Brief an Edgar Franke (SPD), den Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium und Bundestagsabgeordneten aus dem Schwalm-Eder-Kreis, übergeben. Eine Antwort habe man bisher leider nicht bekommen, so Grönig.
Ungebremster Rückgang in ganz Hessen
Der Kreis im Norden Hessens steht mit seinem Apothekensterben nicht allein da. Im ganzen Bundesland gibt es immer weniger Pharmazien. So zählte der HAV am Ende des vorigen Jahres 1.389 Apotheken. Im Oktober 2023 waren es demnach 1.344 und damit 45 weniger. Der Trend zeigt sich in ganz Deutschland.
Besonders drastisch lässt sich der Rückgang im Vergleich zu 2015 erkennen: Damals gab es in Hessen noch 1.518 Apotheken - rund 11,5 Prozent mehr als heute. Ein HAV-Sprecher betont, diese Entwicklung setze sich ungebremst fort. Dazu ist der Altersdurchschnitt bei Apothekerinnen und Apothekern hoch: Jeder fünfte ist über 60 Jahre alt, das Durchschnittsalter liegt bei 52 Jahren.
Landbevölkerung im Nachteil
Dazu komme die prekäre wirtschaftliche Lage: steigende Betriebskosten und regelmäßige Tarifanpassungen bei stagnierendem Ausgleich der fixen Kosten machten es Apothekern schwer, kostendeckend zu kalkulieren. Dies werde "zu einer weiteren Verschlechterung der Versorgungslage vor allem in ländlichen Gebieten führen", heißt es in einer Zusammenfassung des Hessischen Apothekerverbands.
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Auch Grönig treibt diese Sorge um. Den Vorschlag von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), Filialapotheken ohne Apotheker und Notdienstpflicht zu etablieren, hält Grönig für falsch. Gerade Notdienste seien wichtig für die Bevölkerung. "Sind die Leute auf dem Land Patienten zweiter Klasse, die nachts keinen Fiebersaft für ihr Kind holen können?"
GKV: Leistungsgerechte Vergütung überfällig
Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV), deren Mitglieder die Leistungen der Apotheken vergüten, schlägt flexiblere Apothekenstrukturen vor, um einer kritischen Unterversorgung auf dem Land vorzubeugen. Der Onlineversand ergänze herkömmliche Vertriebsformen und erleichtere bereits vor allem die Versorgung von mobilitätseingeschränkten Patienten und Menschen in strukturschwachen Regionen.
Der Handel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten muss laut GKV für die Apotheken wirtschaftlicher werden. Der Verband fordert eine leistungsgerechte Vergütung - diese sei überfällig. Der Wettbewerb müsse im Sinne der Patienten gestärkt werden. In der politischen Diskussion hätten zuletzt vor allem Honorarforderungen der Apotheker im Vordergrund gestanden und weniger die Verbesserung der Versorgung.
Gemeinde Morschen sucht Apotheker
In Morschen (Schwalm-Eder) bekommen die Menschen das Apothekensterben am eigenen Leib zu spüren. Seit Anfang des Jahres ist die einzige Apotheke im Ort geschlossen. Wer Schmerzmittel oder Fiebersaft braucht, muss nach Alheim, Melsungen oder in andere Orte ausweichen. Mit dem Auto sind das 8, 14 oder noch mehr Kilometer. Ganz schön weit, wenn es schnell gehen soll.
Bürgermeister Roland Zobel (FDP) sieht den Wegfall der Apotheke als einen schweren Schlag für seine Gemeinde. Nicht nur, weil die Menschen weitere Wege in Kauf nehmen müssen, um die benötigten Medikamente zu bekommen. Es fehle auch eine fachliche Beratung vor Ort, der die Menschen vertrauen könnten. Apotheken übernähmen häufig die medizinische Erstberatung, also bevor die Menschen überhaupt zur Arztpraxis gehen.
Keine Bedarfsplanung bei Apotheken
Lange hat Morschen mit der Apothekerin nach einer Nachfolge gesucht. Sie wollte ihr Geschäft mit 69 Jahren übergeben. Die Gemeinde schaltete Anzeigen und machte in sozialen Netzwerken darauf aufmerksam. Ohne Erfolg. Purer Fust, sagt Zobel. Doch aufgeben will er nicht, die Suche gehe weiter.
Eine Bedarfsplanung gibt es im Apothekenbereich nicht - anders als bei Ärzten, wo eine Mindestquote ermittelt werde, so die GKV. Doch die Behörden in den Regionen, in denen ein "Notstand in der Arzneimittelversorgung" herrsche, könnten gemäß dem Apothekengesetz bestimmte Sonderformen von Pharmazien zulassen.
Höhere Pauschalen als Anreiz?
Doch wie kann man mehr junge Pharmazeuten in den ländlichen Bereich locken? Grönig sagt, es brauche vor allem höhere Pauschalen, beispielsweise für verschreibungspflichtige Medikamente. Diese seien in den vergangenen 20 Jahren lediglich um drei Prozent erhöht worden. Andere Pauschalen im Gesundheitssystem würden regelmäßig oder sogar jährlich angepasst.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 16.11.2023, 19.30 Uhr
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