Halbzeit beim Rückbau Biblis wittert nach dem AKW die nächste große Chance
Das Atomkraftwerk Biblis spülte Steuergeld in die Gemeindekasse und brachte Arbeitsplätze an die Bergstraße. In ein paar Jahren wird das riesige Gelände eine bestens erschlossene Brachfläche sein. Steht der Ort vor einer strahlenden Zukunft?
Personalausweis zeigen, metallische Gegenstände ablegen, den Rucksack durchleuchten lassen - die Sicherheitskontrollen im stillgelegten Atomkraftwerk Biblis (Bergstraße) sind noch dieselben wie früher. Nur wird hier seit 2011 kein Strom mehr produziert. Das Werk wird seit 2017 zurückgebaut. Im Jahr 2032 soll das abgeschlossen sein. Und dann? Ein Besuch an verschiedenen Orten in Biblis erlaubt vage Blicke in die Zukunft.
1. In der früheren Schaltzentrale
Alexander Scholl ist Sprecher des Energiekonzerns RWE für dessen AKW in Biblis und arbeitet seit über 20 Jahren hier. Routiniert reicht er der Besucherin vor dem Zutritt zum Sicherheitsbereich einen orangefarbenen Schutzanzug, Überziehschuhe und einen Geigerzähler, der für die Dauer des Besuchs die Strahlung messen soll.
Auch mehrere Männer gehen durch eine dicke Röhre in den Sicherheitsbereich. Von früher 700 RWE-Mitarbeitern sind rund 250 geblieben. Dazu kommen fast noch einmal so viele, die bei Zeitarbeitsfirmen beschäftigt sind.
Sie alle haben eine Aufgabe: dafür zu sorgen, dass das ehemalige Kraftwerk sicher Stück für Stück in seine Einzelteile zerlegt wird. Alexander Scholl weist den Weg zu einer Tür und sagt: "Das ist das Herzstück des früheren Kernkraftwerks. Das ist die Schaltwarte."
Dieser Ort scheint aus der Zeit gefallen zu sein: ein Raum voller Regler, Schaltknöpfe und Kontrollanzeigen, von denen nur noch die wenigsten leuchten. Hier liefen alle Informationen zusammen, die nötig waren, um ein Kernkraftwerk zu betreiben. Jetzt liegt einer der Bürostühle verkehrt herum in der Ecke, der Teppichboden ist zerrissen. Aus der Schaltzentrale ist ein Lost Place geworden.
Bei der Frage, wie es für ihn ist, diesen Raum so zu sehen, zuckt Alexander Scholl mit den Achseln. Er sagt: "Das gehört einfach dazu, dass man sich auf das vorbereitet, was in den nächsten Jahren kommt."
Aber was da kommt, ist nur teilweise klar.
2. Im Keller
Bis 2032 soll das ehemalige Atomkraftwerk Biblis zurückgebaut sein. Die Arbeiten liegen im Zeitplan, wie Alexander Scholl sagt. Zwei der vier Kühltürme sind 2023 zum Einsturz gebracht worden. Die Brennelemente und große Teile wie die Dampferzeuger sind bereits ausgebaut. 99 Prozent der radioaktiven Elemente sind laut RWE ausgebaut. Das übrige ein Prozent auszubauen und sicher in Behältern zu verpacken, ist eine Aufgabe für die kommenden Jahre.
Im Keller des Reaktorblocks stehen eine große Bandsäge, eine Ultraschallreinigungsanlage und einer Anlage, die mithilfe von Wasserdruck oberflächliche Schichten von Dingen entfernen kann. RWE-Sprecher Scholl erläutert, dass jedes Kabel, jedes Treppengeländer, jeder Stein aus dem Inneren des Sicherheitsbereichs auf Strahlung kontrolliert und, wo das möglich ist, gereinigt werden muss.
"Unser Ziel ist es, am Ende so viel wie möglich in den Wertstoffkreislauf zurückgeben zu können", sagt Scholl. Bis vom früheren Atomkraftwerk nichts mehr zu sehen sein wird, fallen rund eine Million Tonnen Bauschutt an.
3. Im Rathaus
In Biblis sieht man den Rückbau mit gemischten Gefühlen. Der Bürgermeister Volker Scheib (parteilos) lädt zum Gespräch darüber in den großen, holzgetäfelten Saal im Erdgeschoss des Rathauses ein. Es ist eines der Zeugnisse davon, dass die Gemeinde zu Laufzeiten des Atomkraftwerks zu den wohlhabendsten Kommunen in ganz Hessen zählte.
"Egal, wie man dazu stand: Es war einer der größten Arbeitgeber, es war die größte Geldquelle für Biblis", sagt Volker Scheib. Er spricht von einem "kleinen Märchen" für die 9.200-Einwohner-Gemeinde, für die in voratomaren Zeiten der Gurkenanbau prägend war.
Steuergeld in siebenstelliger Höhe habe das Kraftwerk jährlich eingebracht, RWE habe Vereine unterstützt, junge Familien seien zugezogen, berichtet Scheib. Und jetzt? "Nach dem Abschalten ist das alles erst einmal in sich zusammengebrochen", sagt der Bürgermeister. Biblis sehe sich "strukturellen Problemen" gegenüber.
4. Auf der Straße
Wer mit Passanten im Ort spricht, bekommt den Eindruck, dass in Biblis fast jeder jemanden kennt, der im früheren Atomkraftwerk gearbeitet hat oder noch immer dort beschäftigt ist. Viele positive Worte zum Kraftwerk sind zu hören, nur wenige negative. Auch die langjährigen Demonstrationen gegen Atomkraft werden allenfalls in Nebensätzen erwähnt.
Inzwischen ist es weniger das Kraftwerk, das die Menschen beschäftigt, als das Zwischenlager, das nur wenige Meter entfernt steht. Eine junge Mutter aus Biblis, die nur ihren Vornamen Lisa nennen möchte, fasst es so zusammen: "Mir wäre es lieber gewesen, man hätte das Kraftwerk noch laufen lassen und seinen Nutzen daraus gezogen, als das Gelände jetzt als Mülldeponie zu nutzen." Sie macht eine kurze Pause, bevor sie sagt: "Aber zurück gibt es ja jetzt keinen Weg mehr."
5. Im Zwischenlager
Hinter dicken Betonwänden lagern im Zwischenlager Biblis derzeit 108 Castorbehälter mit hochradioaktivem Inhalt aufrecht in einer Halle. Dazu kommen 138 Behälter mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen. Diese sollen in den Schacht Konrad im niedersächsischen Salzgitter gebracht und dort endgelagert werden.
Der hochradioaktive Müll soll in Biblis bleiben, bis ein Endlager für diese Art der Hinterlassenschaften des deutschen Atomzeitalters gefunden sein wird. Die Suche läuft, mit einem Ergebnis wird für die Mitte des Jahrhunderts oder laut einer Studie sogar erst für 2074 gerechnet. So oder so dürften die strahlenden Abfälle noch da sein, wenn alles andere vom Atomkraftwerk Biblis längst verschwunden sein wird.
Aber was passiert dann?
6. Auf der Entwicklungsfläche
Trotz des nahen Zwischenlagers weckt das Gelände, auf dem das Atomkraftwerk Biblis in einigen Jahren vollständig verschwunden sein wird, großes Interesse. "Eine solche Industriefläche mit Hafen, Schienenanschluss und unweit der Autobahn gibt es sonst in Hessen kaum noch", betont der Bergsträßer Landrat Christian Engelhardt (CDU).
Im Oktober unterzeichneten der Kraftwerksbetreiber RWE, der Kreis Bergstraße, die Gemeinde Biblis und die Wirtschaftsförderung Bergstraße eine Absichtserklärung, wonach sie das rund 60 Hektar große Gelände gemeinsam entwickeln wollen. Was darauf möglich ist, soll jetzt eine Machbarkeitsstudie zeigen.
Denkbar sei dabei vieles, hieß es bei dem Termin im Oktober: von der Ansiedlung großer Tech-Firmen oder Mikrochip-Fabriken bis hin zu einer Weiternutzung der Fläche durch RWE, zum Beispiel zur Förderung CO2-freier Stromproduktion oder für Strom-Zwischenspeicher oder für eine H2-Ready-Anlage zur Umwandlung von grünem Wasserstoff in Strom.
Bürgermeister Scheib will die derzeitigen "strukturellen Probleme" in eine neue Chance für Biblis verwandeln. Er will dafür sorgen, dass auf dem Gelände weiter Menschen eine Arbeit finden: "Ich möchte, dass man wieder sagt: Wir nehmen unser Schicksal in die eigene Hand."