Ein Betroffener aus Kassel berichtet Bürgergeld-Debatte: "Die Diskussion fühlt sich nicht gut an"

Verleitet das Bürgergeld zum Nichtstun oder ermöglicht es Bedürftigen ein Existenzminimum? Während FDP und CDU eine Senkung der Bezüge fordern, sehen Fachleute dafür kaum Möglichkeiten. Ein Betroffener aus Kassel fühlt sich durch die Debatte abgestempelt.

Eine Frau geht in die Agentur für Arbeit in Frankfurt am Main
Eine Frau geht in die Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit in Frankfurt. Bild © picture-alliance/dpa

Oliver Haarbusch ist Ende 50, alleinerziehender Vater und lebt mit seiner 14 Jahre alten Tochter in Kassel. Vor sechseinhalb Jahren ist er krank geworden, kann seitdem nicht mehr arbeiten. Beide erhalten Bürgergeld. Und das reiche gerade so, sagt Haarbusch: "Wir müssen immer genau gucken, was für den Monat zur Verfügung steht an Geld. Wenn mal eine unvorhergesehene Ausgabe kommt, dann wird es meist ziemlich eng."

Kein Wunder: Vom Bürgergeld in Höhe von 560 Euro für ihn und 470 Euro für seine Tochter bleiben beiden knapp 700 Euro im Monat zum Leben, wie Oliver Haarbusch vorrechnet.

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Schließlich müssten sie damit auch die Kosten für Strom, die ÖPNV-Karte für den Schulweg oder den Nachhilfeunterricht decken. Immerhin bezahle das Jobcenter die Miete für die 50-Quadratmeter-Wohnung und die Heizkosten.

Seine Tochter und er müssten preisgünstige Lösungen finden, sagt Haarbusch: "Wir recyclen ganz viel und kaufen oft Secondhand-Klamotten statt Neues." Seine Tochter habe Gott sei Dank keine Probleme damit, da sie sehr umweltbewusst sei.

"Und wir fahren viel mit dem Fahrrad. Dadurch können wir viele Kosten einsparen - wie sowieso an allen möglichen Ecken und Enden", sagt der Kasseler Bürgergeld-Empfänger. Alle zwei Wochen gingen sie zur Lebensmitteltafel, den Urlaub verbrächten sie meistens bei Freunden.

Rhein: "Rückkehr zu Leistungskultur"

Klingt nach einem bescheidenen Leben. Der FDP ist jedoch das Bürgergeld zu hoch. Seit Monaten drängt sie auf eine Senkung der Sätze, obwohl diese einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgen. Nach geltender Gesetzeslage wäre eine Kürzung der Sozialleistung ohnehin nicht möglich, meldete dann auch das SPD-geführte Bundessozialministerium.

Doch für den Chef der Bundestagsfraktion der FDP, Christian Dürr, fällt das Bürgergeld "aktuell 14 bis 20 Euro im Monat zu hoch aus". Mit dem Mietzuschuss stünden Bürgergeld-Bezieher vielfach besser da als Menschen, die Vollzeit arbeiteten, argumentiert Dürr.

Sein Parteikollege, Bundesjustizminister Marco Buschmann, findet, man müsse Bedürftigen gegenüber solidarisch sein, aber zugleich die Solidarität mit jenen Menschen stärken, "die in unserem Land arbeiten, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge bezahlen und so unseren Sozialstaat finanzieren".

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Anfang 2024 wurde das Bürgergeld um zwölf Prozent erhöht. Alleinstehende bekommen seither 563 Euro im Monat, 61 Euro mehr als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr gab Deutschland etwa 42,6 Milliarden Euro für Bürgergeld aus, nach 36,6 Milliarden im Vorjahr. 

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Wie andere Spitzenpolitiker der CDU griff auch Hessens Ministerpräsident Boris Rhein das Bürgergeld als Thema auf. In einem Gastbeitrag für die FAZ forderte er "die Rückkehr zu einer positiven Leistungskultur in Deutschland". Es müsse der Grundsatz gelten: "Wer etwas leistet, hat von Staat und Gesellschaft mehr zu erwarten als jemand, der weniger leistet."

Zu hohe Sozialleistungen wie das Bürgergeld setzten falsche Anreize für Arbeitslosigkeit statt Arbeit und entzögen dem Arbeitsmarkt wichtige Fachkräfte.

Bürgergeldempfänger: "Als sei man ein Schmarotzer"

Oliver Haarbusch erzählt, er habe als Kfz-Mechaniker immer gern und eher zu viel gearbeitet. Mit 51 Jahren hätten sich schwere Herzrhythmusstörungen bemerkbar gemacht. Bis heute und selbst nach mehreren Therapien leide er weiterhin an Vorhofflimmern. Es werde zwar langsam besser, aber an regelmäßige Arbeit sei nicht zu denken. Er sei auf die Unterstützung des Staates angewiesen.

Ein Mann mit grauem Vollbart schaut ernst in die Kamera, im Hintergrund eine Wiese und Gebüsch
Oliver Haarbusch. Bild © privat

Die Politiker, die das Existenzminimum in Form des Bürgergelds noch zu hoch finden, betonen zwar, sie wollten nicht bei Kranken, sondern nur bei Faulen oder sogenannten Totalverweigerern kürzen. Oliver Haarbusch müsste sich also nicht angesprochen fühlen. Doch für ihn geht die Diskussion in eine falsche Richtung: "Es fühlt sich nicht gut an, als sei man ein Schmarotzer in der Gesellschaft, wenn man Bürgergeld bezieht." Wenn man krank sei, bleibe einem nichts anderes übrig.

Arbeitsagentur-Chef: "Ein Querschnitt der Gesellschaft"

Das sieht auch Frank Martin so. Der Leiter der Regionaldirektion Hessen der Bundesagentur für Arbeit sagt: "Das Bürgergeld ist die letzte Auffangmöglichkeit für Menschen, die nichts verdienen und auch keine anderen Hilfen bekommen." Wer diese Leistung nicht erhalte, erhalte nirgendwo anders etwas.

Der Leiter der Regionaldirektion erläutert, dass von den gut 420.000 Menschen in Hessen, die Bürgergeld erhalten, nur knapp ein Drittel arbeiten könnte, gut zwei Drittel aber nicht. "Das sind nicht nur Erwachsene im erwerbsfähigen Alter, sondern es gibt auch Zuschläge für die Bedarfsgemeinschaften beispielsweise für Kinder."

Unter den Empfängern seien desweiteren Menschen in einer Weiterbildungsmaßnahme oder Geringverdiener, die trotz Arbeit sonst nicht über die Runden kämen, sagt Martin: "Das ist ein breites Spektrum, ein Querschnitt der Gesellschaft."

Drei Prozent der Empfänger gelten als Verweigerer

Nur die wenigsten dieser Menschen verweigerten sich den Maßnahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt, sagt Martin. Solche Totalverweigerer, von denen CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann oft spricht, seien nicht bereit, etwa zu vereinbarten Terminen im Jobcenter zu erscheinen oder zu arbeiten. Doch in diese Kategorie fielen nur rund 13.000 Menschen in Hessen, also drei Prozent der Bürgergeld-Empfänger.

Joachim Rock, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, spricht von einer "Ablenkungsdebatte" im Haushaltsstreit der Ampel-Regierung. Die Regelsätze waren Anfang 2024 deutlich um gut zwölf Prozent angehoben worden, was lediglich die Versäumnisse der vergangenen Jahren mit hohen Inflationsraten ausgeglichen habe. Zuvor seien die Bürgergeld-Sätze zu langsam angepasst worden.

Oliver Haarbusch aus Kassel rät den Politikern, die geringere Bürgergeld-Zahlungen fordern: "Denen würde ich wirklich ans Herz legen, das mal auszuprobieren, wirklich mal im Bürgergeld-Bezug zu sein." Nur mit den festgelegten Sätzen und ohne Ersparnisse im Hintergrund, die ja angerechnet würden, auskommen zu müssen, das sei "keine schöne Situation und nichts, womit man sich wohlfühlen kann".

Sendung: hr4,

Quelle: dpa, AFP, dpa/lhe