Weiteres Stadtviertel im Kalten Fernwärme-Desaster in Wetzlar weitet sich aus
Ein defektes Fernwärmenetz und ein abgetauchtes Unternehmerehepaar - in Wetzlar herrscht seit Monaten eine Energiekrise der besonderen Art. Jetzt ist ein weiteres Kraftwerk ausgefallen. Hunderte Anwohner sitzen kurz vor Weihnachten im Kalten, eine Schule musste schließen.
Die Stimmung ist im Keller, die Temperaturen sowieso. Michael Becker hat sich schon fast daran gewöhnt, bei eisigen Temperaturen zu schlafen, aber nun wird es draußen immer kälter. Seit August ist Becker ohne warmes Wasser und Heizung, so wie die halbe Wohnsiedlung, in der er lebt. Seit Monaten gibt es rund um das defektes Fernwärmenetz im Wetzlarer Westend heftigen Streit mit dem Energieversorger, der Energieanlagen Betriebsgesellschaft (EAB). Mehrere Anläufe, das offenbar veraltete Fernwärmenetz wieder zu reparieren, blieben bisher erfolglos.
Und als wäre das nicht schon genug, kommt es jetzt sogar noch schlimmer: Ein weiteres von der EAB betriebenes Fernwärmenetz in einem anderen Stadtgebiet ist seit dieser Woche offenbar auch defekt. In der sogenannten Spilburg sind mehrere Straßenzüge seit Tagen ohne Wärme und Warmwasser. Darunter sind sechs Mehrfamilienhäuser mit insgesamt fast hundert Wohneinheiten, die Gebäude des Sportvereins TV Wetzlar und eine private Schule.
Die Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Schule hat am Donnerstag kurzfristig ihre Schüler nach Hause geschickt, jetzt gibt es nur noch Notbetrieb. 120 Kinder sind betroffen. "Wir haben in dem Standort nur noch 12 Grad, aber es wird jeden Tag kälter", sagt Schulleiter Georg Pflüger dem hr. "Da kann man keinen Unterricht machen." Auch in der Vergangenheit habe man immer wieder Probleme mit der Fernwärme gehabt. "Wir hoffen jetzt, dass das Problem während der Ferien gelöst werden kann."
Eigentümer nicht mehr erreichbar
Bei der EAB handelt es sich um eine Zwei-Personen-Firma, die in Wetzlar schon seit Jahren aufgrund von fehlerhaften Abrechnungen in der Kritik steht. Das Besitzerehepaar hatte die Fernwärmeanlagen in den 1990er Jahren von der Bundeswehr gekauft. Seit Wochen ist das Unternehmen allerdings nicht mehr erreichbar, die Webseite unter Bearbeitung.
Laut Stadt Wetzlar zahle die EAB auch ihre Rechnungen nicht mehr, inzwischen sei deshalb ein Insolvenzverfahren beantragt worden. Verkomplizierend kommt hinzu: Die EAB hat im Sommer - als es im Westend bereits die Ausfälle gab - ihren Sitz von Wetzlar nach Baden-Württemberg verlegt. Für das Insolvenzverfahren ist deshalb das Amtsgericht Mannheim zuständig. Hier konnte man auf hr-Anfrage am Freitag allerdings noch nichts dazu sagen.
Stadt springt finanziell für EAB ein
Während in Wetzlar immer mehr Menschen frieren und die Aussichten weiter unklar sind, hat das alles nun auch finanziell abstruse Folgen für die Stadt: Sie muss für die EAB bürgen. Stadtrat Norbert Kortlüke erklärt: Die Fernwärmekraftwerke der EAB werden mit Gas betrieben, das vom regionalen Energieversorger kommt, der Enwag. Stadtrat Kortüke ist gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzender der Enwag.
Weil die EAB aber seit längerem auch ihre Rechnungen bei der Enwag nicht mehr bezahlt habe, gebe es dort inzwischen Außenstände im sechsstelligen Bereich. "Die Enwag müsste also eigentlich der EAB den Gashahn komplett abdrehen, um weiteren Schaden von sich abzuwenden", erklärt Kortlüke.
Um das zu vermeiden, übernimmt nun also die Stadt selbst erst mal Kosten für die Gasrechnung des strauchelnden Energieversorgers, die sich laut Kortlüke auf bis zu 10.000 Euro am Tag beläuft. "Uns ist klar, dass sich das erst mal völlig widersinnig anhört", so der Stadtrat. Aber würde die Stadt nicht einspringen, würden demnächst noch viel mehr Häuser in Wetzlar kalt bleiben.
Die Wetzlarer Stadtverordneten stimmten am Donnerstag mit großer Mehrheit dafür. Bis zu einer Summe von 540.000 Euro wird die Stadt zunächst für die EAB bürgen, so, dass es zunächst bis Februar reicht, wenn die nächste Stadtverordnetenversammlung stattfindet.
Reparaturen laufen weiter
Die Reparaturen laufen derweil sowohl im Westend als auch in der Spilburg. Die Stadt lässt die Arbeiten inzwischen selbst durchführen. Im Oktober erklärte Kortlüke noch: Man könne nicht eigenmächtig an die Leitungen gehen, weil sie Eigentum der EAB seien. "Wir machen das jetzt einfach", sagt Kortlüke nun. Auch die Stadt habe schon lange keinen direkten Kontakt mehr mit dem Eigentümer-Ehepaar gehabt.
Im Westend sind zwar bereits Lecks in den unterirdischen Leitungen gefunden worden, doch möglicherweise gibt es noch mehr. Derzeit sind drei Unternehmen beteiligt. Wann die Löcher gestopft sind und ob das Fernwärmenetz überhaupt noch vollständig zu retten ist, kann derzeit niemand beantworten.
Die gute Nachricht für die Betroffenen im Stadtgebiet Spilburg ist immerhin: Hier scheint es "nur" ein Riss im Kessel zu sein. Derzeit wird gehofft, dass der Defekt kommende Woche wieder repariert werden kann, außerdem wird an einer Übergangslösung gearbeitet.
Anwohner: "Wir sind EAB-Opfer"
Im Westend bezeichnen sich viele der 70 betroffenen Anwohner inzwischen als "EAB-Opfer". Mit entsprechenden Schildern und im Bademantel demonstrierten einige am Donnerstagabend auch bei der Stadtverordnetenversammlung in Wetzlar.
Michael Becker hat sich wie seine Nachbarn inzwischen notdürftig arrangiert: Er geht seit Monaten zum Duschen ins Fitnessstudio, hat einen Holzofen eingebaut und im Baumarkt eine mobile Gasheizung gekauft. Die Stadt Wetzlar hat Betroffenen außerdem Ölradiatoren und Durchlauferhitzer ausgeliehen.
Becker und viele andere Anwohner sind wütend, vor allem auf die EAB, aber auch ein bisschen auf die Stadt. "Die kann zwar nichts direkt dafür", sagt Becker. Aber die Stadt habe zu lange zugesehen, meint er. "Und jetzt müssen auch noch von unseren Steuergeldern die Rechnungen der EAB bezahlt werden." Das sei zwar in gewisser Weise nachvollziehbar, den frierenden Leuten im Westend helfe es aber auch nicht.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 19.12.2022, 19.30 Uhr
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