Millionenschweres Energieprojekt der Stadtwerke Gießen baut erste Flusswärmepumpen an die Lahn

Klimaneutral bis 2035 - das ist das Ziel der Stadt Gießen. Dabei helfen sollen drei neue Großwärmepumpen an der Lahn. Sie entziehen dem Fluss Wärme und verteilen diese auf tausende Haushalte. Ein ökologisches Vorzeigeprojekt? Ganz so leicht ist es nicht.

Wir schauen von oben auf die Schlachthofstraße in Gießen. Rechts im Bild verläuft die Lahn. Einige Meter von Fluss entfernt ist ein neues Gebäude zu erkennen. Es ist eine grafische Animation und zeigt die geplante Heizzentrale. Darin werden die neuen Flusswärmepumpen stehen.
Fügt sich gut ein ins Gesamtbild: Diese Grafik zeigt die neue Heizzentrale an der Lahn, in der die neuen Flusswärmepumpen stehen werden. Bild © Stadtwerke Gießen
Audiobeitrag
Bild © Stadtwerke Gießen| zur Audio-Einzelseite
Ende des Audiobeitrags

Seit ein paar Wochen ist am Ufer der Lahn eine breite, kahle Schneise im hölzernen Dickicht zu sehen. An der Schlachthofstraße – mitten in Gießen – wird gebaut. Dort wollen die Stadtwerke Gießen (SWG) in den kommenden Monaten eine neue Heizzentrale für ihr Projekt "Powerlahn" hochziehen. Deren Herzstück sind drei neue Flusswärmepumpen wie sie in Hessen bislang einzigartig sind.

Wärmepumpen könnten andere Quellen ersetzen

Die Gießener Flusswärmepumpen sollen ab Sommer 2026 klimafreundliche Fernwärme für rund 3.900 Haushalte herstellen. "Sie verdrängen andere Einheiten, die mit fossilen Brennstoffen arbeiten, und sparen so massiv CO2 ein", sagt Matthias Funk, der technische Vorstand der SWG. Laufen die Wärmepumpen, könnten andere, klimaschädlichere Wärmeerzeuger perspektivisch abgeschaltet werden.

Flusswärmepumpen sparen tonnenweise CO2

Bis zu 7.700 Tonnen CO2 pro Jahr sollen die neuen Flusswärmepumpen in Zukunft einsparen. Um das ins Verhältnis zu setzen: Die gesamte Stadt Gießen verursachte zuletzt jährlich etwa 560.000 Tonnen CO2. Die Pumpen könnten also 1,4 Prozent des CO2 ersetzen, das die Stadt Gießen in einem Jahr verursacht. Bürgermeister Alexander Wright (Grüne) bezeichnet "Powerlahn" in diesem Zusammenhang als "ersten, bedeutenden Schritt in Richtung Wärmewende".

Die Anlage sei "nur der Anfang, um die Emissionen der Gießener Fernwärme zu reduzieren", so Wright. Ihre Einsparungen seien aber schon heute "nicht zu unterschätzen". Weitere Maßnahmen würden in der kommunalen Wärmeplanung vorgestellt. Bis 2035 will Gießen klimaneutral sein. Die Stadtwerke bezeichnen "Powerlahn" als ihr "Leuchtturmprojekt" und bewerben es per Imagefilme mit Moderator Willi Weitzel.

"Powerlahn" kommt nicht ohne fossile Brennstoffe aus

Ganz ohne fossile Brennstoffe geht es auch bei "Powerlahn" noch nicht. Das Projekt steht auf drei Säulen: Da sind einmal die Flusswärmepumpen, die die Lahn als Energiequelle anzapfen. Dann ist da ein "Power-to-Heat"-Modell, das Stromüberschüsse in Wärme umwandelt. Und zu guter Letzt wollen die SWG auch zwei neue Blockheizkraftwerke bauen. Die erzeugen neben Wärme auch Strom – verbrennen dafür aber klimaschädliches Erdgas.

Versorgung soll gesichert bleiben

"Wir wollen so wenig fossile Brennstoffe wie möglich verwenden und so wenig CO2 wie möglich emittieren", sagt Stadtwerke-Chef Funk. "Auf der anderen Seite ist für uns aber natürlich die Versorgungssicherheit die oberste Maxime." Um diese zu gewährleisten, müsse die Energieversorgung flexibel sein. Flusswärmepumpen allein reichen da aus seiner Sicht nicht aus. Mit "Powerlahn" setzen die Stadtwerke deshalb auf eine Art Wechselwirkung zwischen den Technologien.

Wärmepumpem - kein Betrieb in den kalten Monaten

Die Wärmepumpen sollen zunächst nur zwischen April und Oktober laufen - also in den wärmeren Monaten des Jahres. Danach sei das Flusswasser der Lahn in der Regel so kalt, dass es nicht möglich sei, damit effizient Fernwärme zu erzeugen, erklärt SWG-Chef Funk. Die Flusswärmepumpen entziehen der Lahn nämlich ihre natürliche Wärme. An der Entnahmestelle sind es etwa fünf Grad Celsius.

Flusswasser lässt Kältemittel verdampfen

Für die Wärmegewinnung läuft das Flusswasser durch Rohre und lässt mit seiner thermischen Energie ein Kältemittel verdampfen. Dieses wird in einem technischen Verfahren so sehr verdichtet, dass das Temperaturniveau auf etwa 80 Grad steigt. Die so erzeugte Wärme wird per Wärmetauscher auf das Wasser im Fernwärmenetz übertragen und fließt dann in die Gießener Wohnzimmer und Bäder.

Drei große, weiße Sandsäcke stehen am Ufer der Lahn. Dahinter ist ein Bagger zu sehen. An dieser Stelle werden die drei neuen Flusswärempumpen gebaut.
Baustelle an der Lahn: Hier werden Teile des neuen Flusswärmepumpensystems verlegt. Bild © Alexander Gottschalk

Umweltverbände: Abkühlung tut der Lahn gut

Das abgekühlte Flusswasser fließt derweil zurück, unterhalb der Wärmepumpen wird die Lahn künftig im Schnitt 0,2 Grad Celsius kälter sein. Dem Ökosystem werde das aber nicht schaden, bestätigen die Gießener Umweltverbände BUND und Nabu. Mehr noch: Die Abkühlung könnte sogar nützlich sein - denn das Lahn-Wasser sei eher zu warm. Auch für Fische oder Krebse besteht laut der SWG keine Gefahr. Es gebe ein Sicherungssystem, damit die Pumpen sie nicht ansaugten. 

"Powerlahn" braucht auch Erdgas

Betrieben werden die drei Gießener Flusswärmepumpen mit Strom. Ein Bruchteil davon kommt von einer Solaranlage auf dem Dach der Heizzentrale. Der Großteil stammt aber aus dem Stromnetz. Zumindest rechnerisch wäre somit ein komplett emissionsfreier Betrieb der Flusswärmepumpen möglich – wenn das Stromnetz zu 100 Prozent aus grünen, erneuerbaren Energiequellen gespeist würde.

Ein Mann in gelber Jacke steht auf einer Baustelle. Es handelt sich um den technischen Vorstand der Stadtwerke Gießen Matthias Funk. Im Hintergrund ist ein Baukran zu sehen.
Zu Besuch auf der Wärmepumpen-Baustelle: Matthias Funk, der technische Vorstand der Stadtwerke Gießen. Bild © Alexander Gottschalk

Blockheizkraftwerke übernehmen im Winter

Anders ist das bei den Blockheizkraftwerken, die eine der drei Säulen von "Powerlahn" sind. Sie brauchen Erdgas. Allerdings laufen auch sie nur zeitweise: zwischen September und April – also in den kälteren Monaten. Die Heizkessel sollen nur dann arbeiten, wenn es notwendig ist, wenn Wärme fehlt, weil die Flusswärmepumpen ruhen. Und wenn weniger Solarmstrom produziert wird, weil die Sonne seltener bis auf die Kollektoren durchdringt. Sie werden nach Angaben der Stadtwerke rund 6.800 Haushalte mit Wärme und etwa 2.100 Haushalte mit Strom versorgen.

Alte Gasturbinen werden ersetzt

Die Blockheizkraftwerke ersetzen zwei alte Gasturbinen, die laut SWG deutlich "ineffizienter" waren. Die Laufzeit der neuen Modelle ist auf 15 Jahre angesetzt. Sie könnten theoretisch also auch dann noch Erdgas verbrennen, wenn Gießen längst klimaneutral sein will. Deshalb sei die Anlage so geplant, dass sie perspektivisch auch grünen Wasserstoff nutzen könne, sagt Stadtwerke-Chef Funk. Er räumt aber auch ein: Ob dieser Wasserstoff auf absehbare Zeit in der notwendigen Menge verfügbar sein wird, sei offen.

"Power-to-Heat"-Modul verarbeitet überschüssigen Strom

Bleibt noch der dritte Teil von "Powerlahn": Das "Power-to-Heat"-Modul. Es soll aus überschüssigem Strom Wärme herstellen. Das Modul läuft zum Beispiel immer dann, wenn Windräder mehr Strom produzieren, als das Netz vertragen kann. Das kann laut Funk Abschaltungen verhindern. Diese sind möglich, wenn eine Überlastung des Stromnetzes droht. Zusammen sollen Blockheizkraftwerke und "Power-to-Heat"-Modul nochmal etwa 2.700 Tonnen CO2 pro Jahr einsparen.

Stadtwerke investieren 30 Millionen Euro

Insgesamt investieren die Stadtwerke rund 30 Millionen Euro - und damit auf einen Schlag so viel, wie sonst in einem ganzen Jahr. Das Geld kommt größtenteils aus einem Darlehen und soll nach Angaben der Stadtwerke innerhalb von zehn Jahren zurückgezahlt werden. Wirklich attraktiv werde dieses Modell für die SWG erst durch Fördergelder aus der Politik, sagt Funk. Die SWG zapft ein Bundesförderprogramm an, das "innovative Kraftwärmekopplungen" belohnt. Dazu zählt auch "Powerlahn", weil alle drei Teilsysteme über eine gemeinsame Steuer- und Leittechnik verbunden sind und in dasselbe Wärmenetz einspeisen.

Der Bund fördert seit 2002 Erzeugungsanlagen, die neben Strom auch Wärme produzieren. Sie heißen Kraftwärmekopplungen oder kurz KWK. Das Gesetz für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung ist unter wechselnden Bundesregierungen immer wieder überarbeitet worden. Das Fördervolumen beträgt mittlerweile rund 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. Geld gibt es über zeitlich befristete Zuschlagszahlungen auf die produzierte Strom- und Wärmemenge.

Die Bundesregierung will damit Anreize für Energieversorger schaffen, damit diese auf effizientere und damit CO2-ärmere Produktionsanlagen umsteigen. Auch Anlagen, die mit fossilen Brennstoffen wie Erdgas arbeiten, können dabei förderfähig sein. Boni gibt es für Anlagen, die besonders "innovativ" Wärme oder Strom produzieren - sogenannte innovative Kraftwärmekopplungen, kurz IKWK. Als solche gilt auch das Gießener "Powerlahn"-Projekt. Die Innovation sind hier die drei Flusswärmepumpen.

Ziel ist, dass die drei Flusswärmepumpen in Zukunft etwa zehn Prozent des Wärmebedarfs der Stadtwerke Gießen abdecken. Die Blockheizkraftwerke können bis zu 15 Prozent des Wärme- und des Strombedarfs beisteuern. Aktuell bezieht die SWG ihre Wärme aus etwa 80 Anlagen, die verschiedene Energieträger nutzen - darunter Holz, Gas, Öl, und Müll. Etwa ein Drittel Fernwärme stammt nach Angaben der SWG aus erneuerbaren Quellen - die Wärmepumpen nicht eingerechnet.

Nachholbedarf bei erneuerbarer Wärme

Der Darmstädter Professor Florian Steinke sieht die Stadtwerke Gießen mit "Powerlahn" auf einem guten Weg. Er forscht für die TU Darmstadt zu komplexen Energiesystem der Zukunft. Beim erneuerbaren Strom mache Deutschland Fortschritte, so Steinke, bei erneuerbarer Wärme gebe es noch großen Nachholbedarf. Großwärmepumpen komme dabei aus seiner Sicht eine besondere Rolle zu. "Sie erlauben es uns, CO2-freie Wärme in großem Maßstab herzustellen."

Die Gießener Flusswärmepumpen gelten als sogenannte Großwärmepumpen. Laut Fraunhofer IEG beginnen diese Großwärmepumpen ab einer Heizleistung ab 500 kW und sind eine "Schlüsseltechnologie" für den klimaneutralen Betrieb von Wärmenetzen. Anbieter haben vor allem Industrie, Gewerbe und Kommunen als Zielgruppe.

Wie viele aktive oder geplante Großwärmepumpen es in Hessen gibt, ist unklar. Betreiber sind nicht verpflichtet diese zu melden. An Gewässern wie der Lahn müssen aber die Regierungspräsidien eine Erlaubnis erteilen. Die drei Gießener Flusswärmepumpen sind jeweils mit einer Leistung von 1.774 kW geplant.

Die schwarz-rote Hessische Landesregierung hat nach eigenen Angaben in der aktuellen Förderperiode des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung 58 Millionen Euro für Programme innovativer Energievorhaben zurücklegen lassen. Damit können laut Wirtschaftsminister Kaweh Mansoori (SPD) auch Großwärmepumpen gefördert werden.

In Hessen sind bislang nur wenige Haushalte an Fernwärme angeschlossen. In einem bundesweiten Ranking des Umweltverbands WWF belegen das Land mit 6,4 Prozent den vorletzten Platz. Unter den westdeutschen Ländern hat Hessen demnach mit Rheinland-Pfalz außerdem in der Fernwärmeproduktion den höchsten Braunkohleanteil.

Auch SWG-Chef Funk glaubt, dass Flusswärmepumpen bald Schule machen werden. In Hessen gibt es ein vergleichbares Projekt bislang nur in Großkrotzenburg im Main-Kinzig-Kreis. Dort sind die Verwerfungen aktuell allerdings groß, was insbesondere an den explodierten Fernwärmepreisen liegt.

Wie sich "Powerlahn" auf die Energiepreise in Gießen auswirken wird, dazu könne man noch "keine verlässliche Vorhersage" treffen, sagen die Stadtwerke. Zumindest über den CO2-Preis, so die Hoffnung, könne man in Zukunft aber sparen.

Formular

hessenschau update - Der Newsletter für Hessen

Hier können Sie sich für das hessenschau update anmelden. Der Newsletter erscheint von Montag bis Freitag und hält Sie über alles Wichtige, was in Hessen passiert, auf dem Laufenden. Sie können den Newsletter jederzeit wieder abbestellen. Hier erfahren Sie mehr.

* Pflichtfeld

Ende des Formulars

Redaktion: Katrin Kimpel

Sendung: hr INFO,

Quelle: hessenschau.de