Inklusion auf Arbeitsmarkt Wetterauer verhilft Menschen mit Behinderung zum Traumjob

Viele Menschen mit Behinderung können nicht ihren Wunschberuf wählen. Sie landen meist in Werkstätten und arbeiten für sehr wenig Geld. Wie das System besser werden kann, zeigt ein Beispiel aus der Wetterau.

Ein junger Mann mit blauem T-Shirt steht hinter einem Traktor und blickt sich um über die Schulter. Zwischen ihm und dem Traktor sind Holzkisten mit Salatköpfen und Gemüse.
Samuel Heinstadt auf dem Gemüsehof von Landwirt Theo Bloem in Bad Nauheim. Bild © Jochen Rolle

Samuel Heinstadt fährt mit einem kleinen, roten Traktor über ein Feld. Der junge Mann hält immer mal wieder an, um einzelne Salatköpfe aufzuheben und sie in eine Holzkiste zu laden. Eine Kollegin ruft ihm ab und an ein paar Anweisungen zu, denn Samuel wird noch angelernt.

Der 22-Jährige macht seit drei Monaten auf dem Gemüsehof von Theo Bloem im Bad Nauheimer Stadtteil Steinfurth (Wetterau) ein Praktikum. Er erzählt, dass er sich hier wohl fühle und hoffe, dass er übernommen wird. "Ich wollte schon immer in der Landwirtschaft arbeiten - von klein auf", sagt Samuel.

Dass sein Wunsch mindestens schon mal für ein Praktikum in Erfüllung gegangen kann, ist nicht selbstverständlich, denn Samuel hat eine Behinderung. Viele Menschen mit Behinderung können nicht selbst wählen, wie ihre berufliche Zukunft aussehen wird. Das liegt an mangelnden Fördermöglichkeiten, Vorurteilen der Arbeitgeber und bürokratischen Hürden.

Ein Landwirt setzt auf Inklusion

Landwirt Theo Bloem bewirtschaftet den Gemüsehof, auf dem Samuel lernt. Er will dem jungen Mann eine Chance geben, Behinderung hin oder her. "Es gibt viele Leute, die Dinge nicht können", sagt Bloem: "Aber es geht doch darum: Was können sie?"

Videobeitrag
Mehrere junge Menschen sitzen an einem Tisch.
Samuel Heinstadt (2. v. l.) und andere Menschen mit Behinderung aus dem Inklusionsprogramm abBI. Bild © hr
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Bei Samuel, erzählt der Landwirt, habe er schon herausgefunden, was er kann und was er gerne möchte. "Das ist eine Basis. Die Fähigkeiten, die da sind, können wir weiterentwickeln. Da ist es gar nicht wichtig, was er nicht kann", sagt Bloem.

In Hessen leben nach Angaben des Statistischen Landesamts 569.000 Menschen mit schwerer Behinderung, das sind gut neun Prozent der Bevölkerung. Zwei Fünftel von ihnen befinden sich im erwerbsfähigen Alter zwischen 18 und 65 Jahren.

Kaum Chancen auf ersten Arbeitsmarkt

Doch der erste, also reguläre Arbeitsmarkt bleibt vielen von ihnen verschlossen. Der Übergang von der Schule in eine Ausbildung ist für Menschen mit Behinderung oft besonders herausfordernd.

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Grundsätze der Gleichberechtigung

Ein Werkstattplatz kann für manche Menschen der richtige Ort sein. Aber Inklusion bedeutet auch, die Wahl zu haben. Schließlich steht im Grundgesetz: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
2009 hat Deutschland zudem die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet, die die Rechte von Menschen mit Behinderung als Menschenrecht anerkennt.

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Nach Auskunft des hessischen Sozialministeriums "konnten im Jahr 2024 bei 20 Prozent der Schulabgänger und Schulabgängerinnen WfbM-Aufnahmen vermieden werden". Das Kürzel steht für Werkstatt für behinderte Menschen - für viele von ihnen der einzige Weg in eine berufliche Zukunft.

Im Jahr 2023 waren in Hessen knapp 19.000 Menschen in 47 Werkstätten beschäftigt. Werkstätten sollen Menschen mit Behinderung eine berufliche Teilhabe in einem geschützten Raum ermöglichen. Sie sind eigentlich auch dafür gedacht, Menschen in den regulären Arbeitsmarkt zu bringen - falls möglich. Das ist derzeit aber sehr selten der Fall. Meist wird die Werkstatt zur Sackgasse.

Der Landeswohlfahrtsverband Hessen gibt die Quote der Menschen in Hessen, die aus einer Werkstatt in den Arbeitsmarkt wechseln, für die vergangenen fünf Jahre mit 0,3 Prozent an. Dabei gehen Experten und Expertinnen laut einer Studie der Bundesregierung von 2023 davon aus, dass mindestens ein Drittel der Menschen aus den Werkstätten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln könnten - wenn sie ausreichend unterstützt würden.

Werkstätten stehen in der Kritik

Bund und Länder haben in einer Erklärung im Jahr 2022 festgehalten, dass Werkstätten kaum dabei helfen, Menschen mit Behinderungen einen Job auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Ein wirklich inklusiver Arbeitsmarkt könne damit nicht erreicht werden.

Das System der Werkstätten steht in der Kritik. Längst geht es dort nicht mehr nur um Filz- oder Holzarbeiten, sondern auch um Aufträge für mittelständische Unternehmen und internationale Konzerne. Mit ihrer Arbeit erwirtschaften die bundesweit 320.000 Beschäftigten in Werkstätten jährlich einen Umsatz von acht Milliarden Euro - und verdienen dabei durchschnittlich 1,50 Euro pro Stunde. Zur Erinnerung: Der Mindestlohn in Deutschland liegt bei 12,82 Euro. Kritiker nennen Werkstätten für Menschen mit Behinderung das größte Billiglohnmodell in der EU.

Das sagen Praktiker über Werkstätten

Der ehemalige Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten, Ulrich Scheibner, findet, dass Werkstätten nur ein Trugbild sozialer Gerechtigkeit seien: "Das Eingliederungssystem ist in Wirklichkeit ein Absonderungssystem, dem ein Menschenbild zugrunde liegt, das Menschen auf ihre Verwertbarkeit reduziert. Das Werkstattsystem ist arbeitsmarkt- und lebensfern. Und wir finanzieren es mit Milliarden."

Es gibt aber auch Befürworter wie den Vorstandsvorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten, Martin Berg. Er empfindet die Diskussion um Werkstätten als nicht ganz fair: "Ich habe das Gefühl, dass die Werkstätten zum Sündenbock gemacht werden für die Verfehlungen der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Auch wenn wir ungewollt für ein Stück Exklusion sorgen: Für viele ist die Werkstatt der einzige soziale Raum. Ohne sie würden die Menschen auf der Strecke bleiben."

Das hessische Sozialministerium hebt hervor, dass es für Schülerinnen und Schüler aus Förderschulen schon jetzt besondere Unterstützung bei Praktika in normalen Betrieben gebe. Mit Angeboten eines Arbeitsmarktprogramms werde die "dauerhafte Platzierung bei den Praktikumsbetrieben versucht". Zudem gebe es seit 2024 finanzielle Anreize für Werkstätten, wenn sie den Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen.

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Unterstützung für Arbeitgeber

Das HePAS-Programm des Sozialministeriums bietet Arbeitgebern Prämien von bis zu 26.000 Euro für die Einstellung oder Ausbildung von Menschen mit Behinderungen. Damit will das Land Arbeitgeber ermutigen, jungen Menschen mit Behinderungen eine Chance zu geben, und einen Mehraufwand finanziell ausgleichen. Allein in den Jahren 2020 bis 2022 unterstützte das Ministerium nach eigenen Angaben über 1.550 Einstellungen und 200 Ausbildungen von schwerbehinderten Menschen.

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Modellprojekt in der Wetterau

Jochen Rolle aus der Wetterau wollte nicht weiter warten, bis sich das System ändert. Er hat im Kleinen ein neues System geschaffen. Ein System, das den einzelnen Menschen sehen möchte.

Ein Mann mit hoher Stirn und im karierten Hemd schaut lächelnd in die Kamera.
Jochen Rolle, Geschäftsführer der Inklusive Arbeit Wetterau gGmbH. Bild © privat

Rolle ist Geschäftsführer der Inklusive Arbeit Wetterau gGmbH in Bad Nauheim, die sich für mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzt. Zusammen mit einem freien Träger entwarf er das Ausbildungsprogramm abBI für junge Menschen mit Behinderung.

Die Abkürzung steht für alternative berufliche Bildung. Das Programm soll einen Weg in das Berufsleben jenseits der Werkstatt bieten, so Rolle: "Unsere Vision war und ist: Teilhabe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt." Er wolle "den Wunsch und das Wahlrecht der jungen Leute ernst nehmen und gucken, welche Berufswünsche sie haben". Die Menschen mit Behinderungen sollen wie alle anderen ihr Glück auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt versuchen können.

Individuelle Förderung statt Standardlösungen

Die Teilnehmenden bei abBI haben aufgrund ihrer Behinderungen nach der Schule alle eine Empfehlung für die Werkstatt bekommen. Mit dem Ausbildungsprogramm von Jochen Rolle können sie stattdessen in Praktika herausfinden, was sie gut können und wirklich machen wollen. In 27 Monaten absolvieren die jungen Menschen Langzeitpraktika auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Samuel Heinstadt ist einer von ihnen.

Samuel hat schon einige Arbeitsstellen ausprobiert. Nirgendwo fühlte er sich so wohl wie auf dem Gemüsehof in Bad Nauheim-Steinfurth, wie er sagt.

"Wir versuchen wirklich, nach dem jeweiligen Bedarf zu gucken. Wir unterstützen auch die Eltern der jungen Menschen", erläutert Rolle: "Das ist ein ganzheitliches Denken, und dann kann es funktionieren." Ein Standard-System wie die Werkstätten könne da noch nicht oder selten mithalten.

Nicht mal jedes zweite Unternehmen erfüllt Quote

Häufig wird Menschen mit Behinderung die Arbeitsfähigkeit abgesprochen. Die Zusammenarbeit mit Unternehmen funktioniert noch nicht gut genug. Außerdem scheint, schaut man auf das Inklusionsbarometer Arbeit der Sozialorganisation Aktion Mensch [PDF - 109kb], die derzeitige Wirtschaftssituation in Hessen die Inklusion auszubremsen.

Ein junger Mann steht in einer Lagerhalle und schaut in die Kamera. Um ihn herum stehen Kisten mit Kürbissen, Salat und anderem Gemüse.
Samuel Heinstadt in einer Lagerhalle auf Theo Bloems Gemüsehof. Bild © Jochen Rolle

Eigentlich sollten Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitsplätzen mindestens fünf Prozent ihrer Stellen mit Menschen mit Behinderung besetzen. Diese gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigungspflicht soll dazu dienen, schwerbehinderte Menschen besser ins Arbeitsleben zu integrieren.

Das Inklusionsbarometer zeigt: Das funktioniert so nicht. Immer weniger Unternehmen kommen ihrer Pflicht nicht nach. Der Anteil der Betriebe in Hessen, die die vorgegebene Fünf-Prozent-Quote vollständig erfüllen, ist auf einen Tiefstwert von 42 Prozent gesunken. Um die Quote zu umgehen, zahlen viele Betriebe lieber die sogenannte Ausgleichsabgabe in Höhe von 140 bis 360 Euro an das Integrationsamt.

Im Kleinen klappt's

Samuel Heinstadt jedoch hat Anlass zur Hoffnung, dass sein Traum wahr wird: "Ich freue mich riesig über den Job. Denn ich wollte ja schon immer in die Landwirtschaft."

Auch Jochen Rolle kann sich freuen. Sein Inklusionsprogramm hat schon acht junge Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt. Fünf weitere kommen in diesem Jahr noch hinzu.

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Schwierige Jobsuche

Schwerbehinderte Menschen suchen laut Inklusionsbarometer durchschnittlich 94 Tage länger nach einer neuen Beschäftigung als Menschen ohne schwere Behinderung. Die Zahl der als arbeitslos gemeldeten schwerbehinderten Menschen stieg im Jahr 2023 auf 10.979. Das waren 150 oder 1,4 Prozent mehr als im Vorjahr.

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