Fernwärme-Krise in Wetzlar Wenn der Energieversorger pleitegeht: Ein Jahr kalte Dusche
Ein defektes Fernwärme-Netz sorgt in Wetzlar seit einem Jahr für Chaos, kalte Duschen und keine Heizung. Dutzende Haushalte sind weiterhin betroffen. Und der private Energieanbieter EAB ist nun offiziell insolvent.
Derzeit ist es warm im Haus von Michael Becker. Aber das liegt einzig und allein an den sommerlichen Außentemperaturen. Die Leitungen in seinem Haus sind weiterhin kalt. Im Winter musste Becker mit dem Holzofen und einem mobilen Gasheizer heizen. Und zum Duschen geht er seit einem Jahr ins Fitnessstudio – oder er duscht eben kalt.
Keine Heizung, kein warmes Wasser: Becker ist einer von rund 70 Anwohnerinnen und Anwohnern im Wetzlar Westend, bei denen am 18. Juli 2022 plötzlich die Wärmeversorgung ausfiel. Schuld war ein Problem mit dem unterirdischen Fernwärmenetz, das die Häuser in der Wohnsiedlung verbindet.
Ganz ungewöhnlich war das damals zunächst nicht. In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder mal Probleme mit der Fernwärme im Westend gegeben. Nur: Dieses Mal wurde das Problem nicht so schnell behoben – und das ist es bis heute nicht. Seit einem Jahr herrscht im Westend eine Energie-Krise der besonderen Art.
Die EAB: Ein Zwei-Personen-Energieunternehmen
Im Hintergrund steht ein wirtschaftliches Debakel, das kurios sein könnte, wäre es nicht gleichzeitig so bitter für die Betroffenen. Das Wohngebiet am Wetzlarer Stadtrand wurde vor 16 Jahren erschlossen, direkt im Umfeld einer ehemaligen Kaserne. Als die Bundeswehr in den 1990er-Jahren den Standort aufgab, kaufte ihr ein privates Unternehmen das Fernwärmenetz ab: Die Energieanlagen Betriebsgesellschaft mbH (EAB) entstand.
Die Eigentümer, ein Ehepaar aus Baden-Württemberg, übernahmen damals noch weitere Fernwärmenetze von der Bundeswehr: eins in der Wetzlarer Spilburg und eins in Alsfeld (Vogelsberg). Jahrelang fungierte die EAB dann offenbar als eine Art Zwei-Personen-Energieunternehmen und tat das, womit man sonst große Namen wie E.ON und Mainova oder kommunale Anbieter wie die Enwag in Wetzlar verbindet: Wärme liefern.
Die EAB stand allerdings schon jahrelang in der Kritik: Immer wieder war es zu Ausfällen und fehlerhaften Abrechnungen gekommen. Manche Kunden berichten: Sie hätten über Jahre hinweg überhaupt keine Post von der EAB bekommen. Es sei einfach immer der gleiche Betrag eingezogen worden.
Wetzlar: Dampf aus den Gullis
Auch im Westend passierte im vergangenen Sommer zunächst wenig. Die Häuser blieben kalt, dafür dampfte es aus den Gullis in den Straßen. Schnell war klar: Irgendwo im jahrzehntealten Rohrsystem muss ein Leck sein. Mindestens eins. Aber wo? Nicht nur das: Auch im Heizkraftwerk gab es offenbar Probleme.
Weil über Wochen und Monate nichts passierte, liefen die Anwohnerinnen und Anwohner Sturm. Erst natürlich bei der EAB, wo man allerdings immer schwerer jemanden erreichen konnte. Und schließlich auch bei der Stadt Wetzlar, die als Betreiberin eines Nachbarschaftszentrums mit Kita mitten im Stadtteil sogar selbst EAB-Kundin ist.
Internetseite der EAB abgestellt
Im Oktober 2022 konnte der hr noch mit der Eigentümerin in Baden-Württemberg sprechen. Sie wirkte damals am Telefon bereits hörbar angespannt, betonte allerdings: Man tue alles, was möglich sei, um das Problem zu lösen. Wie lange die Reparatur wohl noch dauere, wisse man nicht. Aber ja – man habe natürlich vor, das Netz weiter zu betreiben.
Am Tag darauf wurde die Internetseite offline genommen – das ist sie bis heute. Und bei der EAB ging danach niemand mehr als Telefon.
Stadt Wetzlar sprang ein
Angesichts sinkender Temperaturen und steigender Verzweiflung im Westend sprang schließlich die Stadt Wetzlar ein. Neben der weltweiten Energiekrise hatte Wetzlars Umwelt- und Energiedezernent Norbert Kortlüke (Grüne) plötzlich noch ein weiteres Problem, das ihn beschäftigte.
Die Stadt suchte kurz- und mittelfristige Lösungen: Sie stellte Anwohnern mobile Heizgeräte zur Verfügung, organisierte Informationsveranstaltungen, auch ein Duschcontainer wurde diskutiert. Außerdem beauftragte die Stadt schließlich selbst Unternehmen, um die Lecks in den EAB-Leitungen zu suchen. Immer wieder keimte Hoffnung auf, allerdings blieb alles erfolglos.
Noch weiteres EAB-Kraftwerk in Wetzlar defekt
Kurz vor Weihnachten fiel plötzlich noch ein anderes EAB-Kraftwerk in der Wetzlarer Spilburg aus. Schuld war hier ein Riss im Kessel. Betroffen waren unter anderem sechs Mehrfamilienhäuser mit insgesamt fast hundert Wohneinheiten, die Gebäude des Sportvereins TV Wetzlar, mehrere Unternehmen und eine private Schule.
Timo Röder, Geschäftsführer der Friedrich-Wilhelm-Raiffeisenschule, erinnert sich: "Das war schon eine unheimlich unglückliche Situation." In einer Kältephase mit zum Teil minus zehn Grad habe man drei Tage vor den Ferien die Kinder nach Hause schicken müssen. "Und wir wussten nicht, wie es danach weitergeht."
Nach den Ferien habe man dann überall in der Schule elektrischen Heizlüfter aus dem Baumarkt aufgestellt. "Das hat funktioniert, aber es war teuer und aufwendig – und fast wäre daran auch das Stromnetz zusammengebrochen." Mitte Januar war dann zumindest in der Spilburg der Kessel repariert, auch hier auf Kosten der Stadt.
Stadt Wetzlar zahlte Rechnungen der EAB
Und dann wurde alles sogar noch abstruser: Gegen die EAB war inzwischen ein vorläufiges Insolvenzverfahren eröffnet worden. Das Unternehmen zahlte offenbar seine Rechnungen nicht mehr, allen voran die für das Gas, mit dem die Fernwärmeanlagen betrieben werden: bis zu 10.000 Euro am Tag, allein in Wetzlar.
Die Gaslieferanten in Wetzlar und Alsfeld drohten, der EAB komplett den Hahn abzudrehen - und damit allen ihren Kunden. Um das zu vermeiden, sprang auch hier wieder die Stadt Wetzlar ein und zahlte über Monate hinweg mehr als eine halbe Million Euro an Gasrechnungen der EAB.
Alsfeld: EAB-Kunden haben jetzt Wärmepumpen
In Alsfeld, wo die EAB ein Netz mit 21 Haushalten und zwei Vereinsgebäuden betreibt, war die Stadt dazu jedoch nicht bereit. Die Folge: Der Anlage wurde das Gas tatsächlich abgedreht. Um die Betroffenen aber nicht allein zu lassen, half die Stadt dabei, eine mobile Heizungsanlage aufzustellen. Die Kosten mussten die Anwohner allerdings selbst zahlen: rund 700 Euro monatlich.
Anwohner Mario Ebbert berichtet: Inzwischen sei diese Anlage wieder abgebaut und die meisten Anwohnerinnen und Anwohner hätten in ihren Häusern Wärmepumpen installieren lassen. Auch er hat das Kapitel Fernwärme abgeschlossen und sagt: "Wir sind damit jetzt sehr zufrieden."
Insolvenzverfahren offiziell eröffnet
Seit Anfang Juli ist nun das Insolvenzverfahren gegen die EAB offiziell eröffnet. Für viele Kunden ist das erleichternd: Alle bisher noch laufenden Verträge sind damit nun offiziell beendet.
Auch Norbert Kortlüke von der Stadt Wetzlar ist froh, weil man nun mit dem Insolvenzverwalter einen festen Ansprechpartner habe und eine Insolvenzmasse festgestellt worden sei. Wie viel für die Stadt als Gläubigerin noch zu holen ist und wie hoch die Außenstände der Stadt überhaupt sind, könne er derzeit noch nicht sagen.
Kortlüke wundert sich noch immer, dass so etwas überhaupt passieren kann – vor einem Jahr wäre das für ihn noch unvorstellbar gewesen. "Und ich hätte auch nicht gedacht, dass es so eine Verantwortungslosigkeit von Seiten eines Betreibers gibt." Seiner Ansicht nach müsse auch hier dringend etwas an der staatlichen Regulierung getan werden.
Kortlüke erklärt: Der kommunale Energieversorger Enwag wolle nun die EAB-Netze in der Spilburg und im Westend übernehmen und sei nach aktuellem Stand auch der einzige Interessent dafür. Für die Heizkraftwerke selbst gebe es noch weitere Interessenten, so Kortlüke, der davon ausgeht, dass es im kommenden Winter in den betroffenen Häusern endlich wieder warm sein wird.
Anwohner in Wetzlar: An kalte Dusche gewöhnt
Auch im Westend haben sich einige Anwohnerinnen und Anwohner inzwischen Wärmepumpen angeschafft, andere würden auch in Zukunft gerne weiter Fernwärme beziehen – aber dann von der Enwag.
Auch Anwohner Michael Becker hofft, dass das Westend nicht in einen weiteren kalten Winter steuert. Er sagt zwar: Ans Kaltduschen habe er sich inzwischen gewöhnt und könne dem persönlich mittlerweile sogar etwas Positives abgewinnen. "Was aber nicht heißt, dass ich nie wieder warm duschen möchte."