Kontorhaus in Kassel Wohnen mit Wir-Gefühl und ohne Dynamik des Mietmarkts
Am Kasseler Hafen soll die Vision vom sozialen Wohnen zur Wirklichkeit werden. Ein Verein will das alte Kontorhaus kaufen und flexiblen Wohnraum schaffen.
Das denkmalgeschützte Kontorhaus aus der Gründerzeit wird hoch in den Kasseler Himmel ragen. Daran wird ein Holzbau mit begrünter Fassade und einladender Dachterrasse anschließen. Bis zu 45 Menschen werden hier im Stadtteil Unterneustadt wohnen, in fünf Jahren könnte es so weit sein. Um das Haus und den Anbau herum wird es Gemeinschaftsgärten geben, einen großen Fahrradschuppen und ein Baumhaus in dem 120 Jahre alten Baum, der am alten Pförtnerhäuschen steht.
So beschreibt Lisa-Marie Schmidt ihre Vision. Die 35-Jährige ist Architektin und Mitglied im Kontorhauskollektiv (KoKo), dem Verein, der das Kontorhaus im neu entstehenden Koop-Quartier am Kasseler Hafen kaufen und nachhaltig umbauen und erweitern will. Und dessen Mitglieder es bewohnen wollen.
Dem Verein schwebt ein Modell des gemeinschaftlichen Wohnens vor: Durch gemeinschaftlich genutzte Flächen werden die Zahl der Räume reduziert und die in einer Stadt begrenzte Ressource Boden geschont. Im Kontorhaus soll es neben privatem Wohnraum daher eine große Küche, einen Waschsalon und Gästezimmer für alle geben.
Flexible Wohnungszuschnitte dank Jokerräume
Aktuell gehören dem Kontorhauskollektiv 18 Erwachsene und zwölf Kinder. Sie alle werden hier einziehen. Später sollen bis zu 16 Parteien in dem Haus wohnen, in zwei bis drei Einheiten pro Etage. Dabei, so der Plan der Architektin, wird sich der Zuschnitt der Wohnungen flexibel ändern lassen: Sogenannte Jokerräume könnten mal der einen, dann der anderen Wohnung zugeteilt werden, erläutert Lisa-Marie Schmidt.
Neben der Architektin engagieren sich unter anderem die Sozialpädagogin Sabine Schreiner, Frieder Schmidt, ein Angestellter aus der Solarbranche, und Mirjam Stappel, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, in dem Projekt. Die Gruppe trifft sich zum regelmäßigen Austausch in einer Wohnung im obersten Stockwerk des Hauses, die der derzeitige Eigentümer, eine Firma aus Bremen, ihnen dazu bereits überlässt.
Sie verbindet vor allem eines: Sie wollen gemeinsam und ökologisch nachhaltig leben und dazu einen Ort der Begegnung schaffen. Mit dem Kontorhaus soll bezahlbarer Wohnraum für alle entstehen. Dafür muss der Verein das Gebäude allerdings erst einmal kaufen. Das ist für Juli geplant.
KoKo hofft auf Direktkredite
Gut ein Drittel der benötigten 900.000 Euro an Eigenkapital haben die zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen bereits selbst finanziert oder in ihrem privaten Umfeld gesichert.
Bis zum geplanten Kauf im Juli sucht KoKo weitere Menschen, die das Projekt mit Direktkrediten unterstützen möchten. Diese Anlageform ist neben Krediten von Banken und öffentlichem Fördergeld eine wichtige Säule in der vom Verein skizzierten Gesamtfinanzierung des 3,5 Millionen teuren Projekts - umso mehr, da Bankkredite aufgrund der gestiegenen Zinsen seit Beginn des Ukraine-Krieg deutlich teurer geworden sind.
Das Haus dem Immobilienmarkt entziehen
Das Kontorhauskollektiv ist Teil des Mietshäuser Syndikats, eines bundesweiten Verbunds aus Freiburg, der alternative Wohnprojekte berät und unterstützt. Mit der Mitgliedschaft in diesem Verbund verpflichten sich der Verein und seine Mitglieder, das Haus zukünftig nicht zu verkaufen. Auch nachfolgende Generationen dürften das nicht, das kontrolliere das Mietshäuser Syndikat, erläutert Lisa-Marie Schmidt.
Das Ziel sei, das Haus im Besitz seiner Bewohner zu halten. Dadurch wolle KoKo dauerhaft günstige Mieten sichern und das Gebäude dem Immobilienmarkt entziehen.
Gemeinsam mit dem Mietshäuser Syndikat hat das Kontorhauskollektiv eine Hausbesitz GmbH - ähnlich wie eine Genossenschaft - gegründet, der das Gebäude gehören wird. Alle KoKo-Mitglieder mieten ihre Wohnung bei der GmbH. Gleichzeitig können sie als Teilhaber über die Zukunft des Kontorhauses mitbestimmen.
Miete soll nicht wie üblich steigen
Gut 20 solcher Wohnprojekte des Mietshäuser Syndikats gibt es in Hessen, neben KoKo ein weiteres davon in Kassel. Im Projekt AgAThe, einer ehemaligen Gärtnerei in der Nordstadt, leben 17 Menschen alleine oder in WGs im Haus oder Bauwagen.
Die Mitglieder planen einen Quadratmeterpreis von sieben bis neun Euro für das komplett sanierte Wohnhaus. Dabei wollen sie lediglich die Grundfläche des privat genutzten Wohnraums berechnen. Die Höhe der Miete richtet sich nach Darstellung der KoKo-Mitglieder auch danach, welchen Anteil an der Finanzierung jeweils Direktkredite und Bankkredite ausmachen. Im Mietpreis enthalten sei - neben der Fläche für den privaten Wohnraum - die Nutzung der vielen Gemeinschaftsflächen. Ziel sei, die Mieten von den üblichen Steigerungsraten zu entkoppeln.
2022 lag der durchschnittliche Quadratmeterpreis in Kassel laut Statista bei rund acht Euro. Im Vergleich zu 2017 entsprach das einer Steigerung von zwölf Prozent. KoKo wolle den steigenden Mietpreisen und der Dynamik des Immobilienmarkts etwas entgegensetzen, sagt Vereinsmitglied Sabine Schreiner - und so die Welt ein klein wenig sozialer gestalten.
Sendung: hessenschau, 18.07.2023, 19:30 Uhr
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