Kaum Inklusion auf Arbeitsmarkt Menschen mit geistiger Behinderung in einem regulären Job - ein seltener Glücksfall
"Ich möchte so arbeiten wie andere Menschen auch." Für eine junge Frau mit Downsyndrom aus der Wetterau hat sich der Wunsch erfüllt - dank eines hessenweit einzigartigen Projekts. Damit ist sie die absolute Ausnahme, denn die meisten Menschen mit geistiger Behinderung landen in Werkstätten.
Julia Rolle arbeitet in der Seniorenresidenz am Südpark in Bad Nauheim (Wetterau). Sammelt Frühstücksgeschirr ein, legt Handtücher zusammen und macht die Betten. "Das kann ich hier besser als zu Hause", erzählt die 21-Jährige lachend. Über ihren Job sagt sie: "Das Gute ist, dass ich mitarbeiten kann, auch im Team. Ich fühle mich gut aufgehoben."
Das ist aus ihrer Sicht nicht selbstverständlich, denn Julia Rolle hat das Downsyndrom. Die allermeisten Menschen mit geistiger Behinderung arbeiten in Deutschland in Behindertenwerkstätten. Julia Rolle hat die Arbeit dort kurz kennen gelernt, sich aber dagegen entschieden: "Ich fühle mich dort nicht wohl. Ich möchte genauso arbeiten wie andere Menschen auch."
Nur eine Handvoll junger Menschen
Dass sie das kann, verdankt Julia Rolle der gemeinnützigen Gesellschaft Inklusive Arbeit Wetterau (InkA) - und wohl ihrem Vater, der sich dort engagiert. InkA und der Sozialarbeitsverein Internationaler Bund (IB) unterstützen jedes Jahr eine Handvoll junger Menschen mit geistiger Behinderung dabei, einen sozialversicherungspflichtigen Job zu finden. "Alternative berufliche Bildung (abBi)" heißt der hessenweit einmalige Kurs.
In 27 Monaten lernen Behinderte, die mobil sind und mit Unterstützung Aufgaben umsetzen können, dabei verschiedene Betriebe kennen - und diese umgekehrt sie. Außerdem bekommen die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer beigebracht, worauf es grundsätzlich ankommt in der Berufswelt.
"Das Ziel ist, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln und dort zu qualifizieren. Wir finden heraus, wo ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten sind, aber auch ihre Schwächen", sagt die Sozialarbeiterin und Jobcoachin Tabea Trapp.
Julia Rolle ist nach gut zwei Jahren fast fertig mit "abBi" und hat ihren Betrieb gefunden. Tabea Trapp besucht sie regelmäßig dort. "Es ist wichtig, dass wir regelmäßig im Austausch sind", sagt die Jobcoachin. Dadurch könne sie erfahren, wo es Schwierigkeiten gibt, so dass sie diese gemeinsam lösen könnten. Julia Rolle habe etwa noch Probleme mit dem Zeitmanagement. "Die Arbeitsstruktur bekommt sie sonst gut hin, das ist wichtig", lobt Trapp.
Fast alle Menschen mit geistiger Behinderung arbeiten in Werkstätten
Im vergangenen Jahr empfingen in Hessen 17.285 Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung eine Eingliederungshilfe, wie das Statistische Landesamt mitteilt. Damit sollen Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung fit gemacht werden für berufliche Tätigkeiten. Nur: Mit 17.165 arbeiteten fast alle von ihnen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen. Gerade mal 120 waren bei privaten oder öffentlichen Arbeitgebern beschäftigt. Zwar soll eine Tätigkeit in einer Behindertenwerkstatt auch auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten. Doch eine Vermittlung dorthin gelingt nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums nur in knapp einem Prozent der Fälle.
"Es gibt ein System, dass Menschen mit Behinderung automatisch in Behindertenwerkstätten kommen", beklagt Jochen Rolle, Julias Vater. Für Eltern und Schulen sei das der leichtere Weg, sagt er: "Die jungen Menschen werden von zu Hause abgeholt und abends wieder gebracht - ein Rundum-sorglos-Paket." Doch es widerspreche dem erklärten Willen zu mehr Inklusion. Der Staat müsse mehr Geld aufwenden, damit Menschen mit geistiger Behinderung reguläre Stellen erhalten, findet Rolle.
Ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums wendet ein: "Die Vermittlungsquote in den allgemeinen Arbeitsmarkt greift als Erfolgskriterium zu kurz." Behindertenwerkstätten sollten einen geschützten Raum schaffen - gerade für die Menschen, die wegen des Grads ihrer Behinderung auf einer regulären Stelle überfordert wären. Zudem seien die meisten in Behindertenwerkstätten Beschäftigten dort recht zufrieden, führt der Sprecher aus: "Die Frage, ob sie gerne in einem Betrieb arbeiten würden, der keine Werkstatt ist, wurde von 71,5 Prozent der im Rahmen einer Studie befragten Personen verneint."
"Deutschland schneidet bei Inklusion schlecht ab"
Die Europa-Parlamentarierin Katrin Langensiepen (Grüne) sieht dennoch arge Defizite bei der Gleichbehandlung von Menschen mit geistiger Behinderung in Beschäftigung und Beruf. "Deutschland schneidet beim Thema Inklusion europaweit schlecht ab. Nach der Grundschule hört die Inklusion hierzulande leider auf", sagte sie zu tagesschau.de. Damit scheitere Deutschland bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.
Dass es auch anders geht, zeigt das Inklusionsprojekt in der Wetterau. Es kommt eben nur sehr wenigen Menschen zugute. Einer von ihnen ist Lukas Szardin, 22 Jahre alt und Autist. Wie Julia Rolle hat er dank "abBi" eine Stelle gefunden: im Elisabethhaus, einer Seniorenresidenz in Bad Nauheim. Er arbeitet dort als Hausmeister und in der Hauswirtschaft, bügelt zum Beispiel die Wäsche.
Stefan Fuchs, Geschäftsführer des Elisabethhauses, sagt über den neuen Angestellten: "Er nimmt bei uns ein Arbeitsverhältnis auf wie jeder andere auch. Mit allen Rechten und Pflichten. Es gibt keine Besonderheiten mehr." Lukas Szardin hört das mit Stolz. Er sagt: "Mir ist es wichtig, dass ich genügend Geld verdiene. Ich will meinen Job fleißig machen." Und irgendwann dann auch von zu Hause ausziehen. Ein selbstständiges Leben führen, wie andere Menschen auch.
Sendung: hr-iNFO, 07.10.2022, 7.49 Uhr
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