Win-win-Modell aus Haiger Schulprojekt gegen Fachkräftemangel macht hessenweit Schule
Schüler der Johann-Textor-Schule in Haiger lernen seit Jahren nachmittags den Beruf ihrer Wahl kennen - und sichern sich so ihren Ausbildungsplatz. Knapp 20 Einrichtungen in ganz Hessen haben das Konzept übernommen. Die Landesregierung möchte das Projekt jetzt unterstützen.
Jimmy Alber ist 13 Jahre alt. Im Gegensatz zu anderen Teenagern weiß er ganz genau, was er beruflich mal machen möchte. "Auf jeden Fall etwas Handwerkliches", sagt er: "Das macht viel mehr Spaß, als im Büro zu sitzen und nur auf den Computer zu starren."
Nach den Sommerferien fängt Jimmy an der Johann-Textor-Schule in Haiger (Lahn-Dill) beim Projekt "SchulePlus" an. Ab dann will er regelmäßig bei einem Bau-Unternehmen in der Region aushelfen. "Damit ich die Menschen kennen lerne und weiß, wie die Maschinen funktionieren, bevor ich dort eine Ausbildung mache", sagt der Schüler.
Eine Ausbildung zur Ausbildung
Das Projekt gibt es seit vier Jahren. Mittlerweile machen in Haiger jedes Jahr etwa 100 Neunt- und Zehntklässler mit. Bis zu ihrem Schulabschluss lernen sie ein Unternehmen aus der Region kennen. Es sind nur ein paar Stunden in der Woche, aber das eben auch zwei Jahre lang.
Der Einsatz lohnt sich: Mit "SchulePlus" sichern sich die Mädchen und Jungen in der Regel einen Ausbildungsplatz. Vor allem wissen sie dann schon, worauf sie sich einlassen.
Die Idee dafür hatte Alexander Schüler. Dem Lehrer an der Johann-Textor-Schule ist es wichtig, dass die Jugendlichen selbst entscheiden, welchen Beruf sie ausprobieren möchten. Sie können jederzeit abbrechen und etwas Neues anfangen. "Das ist eine Hürde weniger, schafft eine Perspektive und macht unsere Kinder stark", sagt Schüler.
Der Lehrer kümmert sich grundsätzlich um die Berufsorientierung an der Johann-Textor-Schule und betont: "Wir möchten wirklich jeden einzelnen Schüler individuell unterstützen." Wenn ein Kind zum Beispiel Lehramt, Jura oder Medizin studieren möchte, dann rät der 46-Jährige dazu, den Schulweg bis zum Abitur weiterzugehen.
Andere Schulen übernehmen Konzept
Seit diesem Schuljahr gibt es "SchulePlus" an elf weiteren Schulen in Hessen. Zum Beispiel an der Schrenzerschule in Butzbach (Wetterau), der Domschule in Fulda und der Mathildenschule in Offenbach. "Das heißt, es sind nicht nur unsere Kinder, die davon profitieren, sondern viel mehr", freut sich Projektleiter Schüler.
Nach den diesjährigen Sommerferien wollen sich sieben weitere Schulen anschließen, darunter die Erich-Kästner-Schule in Oberursel (Hochtaunus) und die Leo-Sternberg-Schule in Limburg. Alexander Schüler hofft, dass noch mehr Schulen das Konzept übernehmen wollen: "Das können auch Teilbereiche sein, die in der jeweiligen Region gut funktionieren."
Diese Schulen machen bei "SchulePlus" mit:
Netzwerk SchuleWirtschaft hilft
Unterstützung gibt es dafür schon vom Netzwerk SchuleWirtschaft. Dahinter stehen die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU) und das Bildungswerk der Hessischen Wirtschaft (BWHW). In Mittelhessen stellt Sebastian Höhn den Kontakt zwischen Schulen und Unternehmen her. Er sagt: "Wenn eine Schule das Projekt nach den Sommerferien einführen möchte, dann ist jetzt die Zeit dafür, entsprechende Vorbereitungen zu treffen."
Zum Beispiel müssten die Betriebe, Eltern und Schüler darüber informiert werden, was "SchulePlus" überhaupt ist. Dabei möchte das Netzwerk helfen, weil es ohnehin einen engen Draht zu den regionalen Unternehmen pflegt.
Land Hessen möchte das Projekt fördern
Auch das hessische Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen möchte "SchulePlus" anderen Schulen zugänglich machen. Kultusminister Armin Schwarz (CDU) sagt: "Es ist ein regionales Beispiel dafür, wie der Übergang in die duale Ausbildung nachhaltig gefördert werden kann. Das unterstreicht die Gleichwertigkeit von akademischer und dualer Ausbildung."
Laut einem Sprecher von Schwarz arbeitet das Ministerium aktuell daran, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, durch "SchulePlus" und ähnliche Projekte noch mehr "realitätsnahe Berufserfahrungen" für Schüler zu ermöglichen. Was das im Detail heißt, sei noch nicht klar.
An der Johann-Textor-Schule in Haiger wird "SchulePlus" nach Angaben von Lehrer Schüler laufend weiterentwickelt. In diesem Schuljahr wurden berufsbegleitende Wahlpflichtkurse eingeführt. In einem davon lernen die Schüler die Grundlagen des technischen Zeichnens. Dieser sogenannte CAD-Kurs wird von ehemaligen Schülern geleitet, die inzwischen ihre Ausbildung machen.
Kanalbauer Elias: "Das Projekt hat mir den Arsch gerettet"
Vor einer Woche gab es eine Ausbildungsmesse mit mehr als 70 Betrieben und Institutionen aus der Region. Auch hier haben ehemalige Schüler ihre Erfahrungen geteilt. Elias Etienne Weber etwa hat Jimmy Alber gezeigt, wie man ein Baustellenfahrzeug bedient. Der 16-Jährige hat nach "SchulePlus" eine Ausbildung zum Kanalbauer angefangen.
"Die Schule ist für mich der langweiligste Ort der Welt. Aber das Projekt hat mir den Arsch gerettet", sagt Elias Etienne. Seinen Schulabschluss habe er vor allem deshalb geschafft, weil er sich nebenbei auf die Ausbildung vorbereitet habe.
"Diese Abwechslung war echt Bombe und hat mich motiviert, nach der Schule etwas mehr zu machen", erzählt Elias Etienne. Bei der Firma Karl Fey habe er gelernt, auf dem Bau anzupacken und teamfähig zu sein. "Andere kommen in die Ausbildung und wissen nichts", sagt er.
Zukunftsängste werden abgebaut
Diese Erfahrung hat auch Mia Trinks gemacht: "Ich habe mir in Fächern wie Mathe oder Physik mehr Mühe gegeben, damit ich nicht noch mal eine Extra-Runde drehen muss." Die 17-Jährige macht jetzt eine Ausbildung als Mechatronikerin bei der Firma Rittal.
Wie viele andere in ihrem Alter hatte sie zunächst keine klare Idee, was sie mal machen möchte. Erst durch "SchulePlus" habe sie sich für einen Beruf im Maschinenbau interessiert. "Dadurch habe ich eben nicht willkürlich irgendeine Ausbildung oder mein Abi gemacht, was dann doch nichts für mich gewesen wäre", sagt Mia.
Nach Auskunft des Projektleiters Schüler gibt es bei "SchulePlus" eine sehr gute Erfolgsquote. Die allermeisten Schüler fänden einen Beruf, der sie interessiere, und fingen am Ende eine Ausbildung an, erzählt er: "Spätestens nach einem halben Jahr sieht man: Es passt für die Schüler und den Betrieb. Das ist eine Win-Win-Situation."
"Lösung für den Fachkräftemangel"
Bevor es "SchulePlus" gab, hatten die Unternehmen aus Haiger händeringend nach Azubis suchen müssen. Das sagt unter anderem Andreas Schmelzer, der Ausbildungsleiter bei der Schweißtechnik-Firma Carl Cloos. "Durch das Projekt werden die Hürden abgebaut, sich zu bewerben."
Weil die Jugendlichen aktiv auf die Betriebe zugingen, seien die Ausbildungsplätze in seiner Firma für die nächsten Jahre gesichert, sagt Schmelzer. Das gelte auch für andere Betriebe aus der Region. "Wir haben eine Lösung für den Fachkräftemangel gefunden, die auch deutschlandweit ausgebaut werden kann", ist Schmelzer sicher.
Auch soziale Berufe profitieren
Neben dem Handwerk profitieren Berufe in der Verwaltung und im sozialen Bereich. Aktuell helfen zum Beispiel mehr als zehn Jugendliche aus Haiger in einer Kita aus. "Der Arbeitsalltag in solchen Berufen ist vielen Schülern eher unbekannt. Wir wollen diese Berührungsängste und auch Vorurteile abbauen", sagt Schüler.
In der Pflegebranche wird das Projekt "SchulePlus" deshalb besonders begrüßt. "Wir hatten noch nie so gute Chancen, junge Menschen für den Beruf zu begeistern", sagt Maya Finkeldei von der Diakonie. Laut ihr wird in den kommenden fünf Jahren etwa ein Drittel der Pflegekräfte altersbedingt wegfallen.
"Viele junge Menschen wissen nicht, was genau dieser Beruf ist. Die Pflege wird auch häufig ein bisschen runtergezogen", sagt Celina Nachbar. Die 17-Jährige hat nach ihrem Abschluss an der Johann-Textor-Schule in der mobilen Pflege angefangen. "Auch wenn es manchmal hart ist: Für diese Dankbarkeit, die ich heute bekomme, würde ich es jederzeit wieder machen", sagt die Auszubildende.
Die Schüler stehen im Vordergrund
In Haiger habe sich das Projekt etabliert, sagt der Leiter der Johann-Textor-Schule, Norbert Schmidt: "Das Interesse an Ausbildungsberufen steigt bei uns jedes Jahr." Wie er es sieht, ist das Interesse von den Unternehmen aus der Region mittlerweile so groß, dass jeder Schüler etwas für sich entdecken könne.
Entscheidend sei aber, dass die Schüler am Ende ihre eigene Entscheidung treffen, betont Schmidt: "Wir sind kein Personaldienstleister für die Wirtschaft und die Industrie. Sondern wir helfen unseren Schülern dabei, ihre Stärken zu finden und bestmöglich einzubringen."