Wintershall Dea zieht Reißleine Was das Russland-Aus für den Standort Kassel bedeutet 

Der Öl- und Gaskonzern Wintershall Dea zieht sich nach langem Zögern aus Russland zurück. Am Standort Kassel blickt man nun lieber nach vorn.

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Wintershall Dea verlässt Russland

Bohranlage des Unternehmens Achimgaz, an dem Wintershall Dea mit 50 Prozent beteiligt ist, in Westsibirien
Bohranlage des Unternehmens Achimgaz, an dem Wintershall Dea mit 50 Prozent beteiligt ist, in Westsibirien. Bild © picture alliance/dpa|Ulf Mauder
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Knapp ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine stoppt der Öl- und Gaskonzern Wintershall Dea sein Geschäft in Russland. In der Kasseler Unternehmenszentrale zeigt man sich auf die Frage nach den Auswirkungen verhalten.

"Kassel als Standort ist nicht gefährdet", versichert ein Konzernsprecher auf hr-Anfrage. Was der Rückzug aus Russland konkret für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedeutet, führte der Sprecher nicht aus. Mögliche Auswirkungen auf Unternehmensstrukturen werde die Geschäftsführung in den nächsten Monaten erörtern, sagt er.

In den vergangenen Monaten habe die russische Regierung die Tätigkeit westlicher Unternehmen im Land eingeschränkt. "Externe Eingriffe in die Aktivitäten" hätten dazu geführt, dass Wintershall dort nicht wie bisher tätig sein könne. Ins Detail geht der Sprecher dabei nicht. Er berichtet aber, dass man seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine keine Zahlungen mehr aus Russland erhalten habe.

Ausstieg offenbar seit längerem vorbereitet

Unweit des Bahnhofs Kassel-Wilhelmshöhe beschäftigt der Konzern rund 500 Menschen, darunter Verwaltungsmitarbeiter, Ingenieurinnen und Wirtschaftsexperten. Hier plant und organisiert Wintershall Dea Gas- und Ölförderanlagen auf der ganzen Welt.

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Unter anderem ist der Konzern an drei Gasförderprojekten in Westsibirien beteiligt: an Achimgaz, Achim Development und Severneftegazprom - bislang. Folgt man den Worten von Vorstandschef Mario Mehren, hat sich Wintershall Dea offenbar seit längerem auf eine Zukunft ohne die Geschäfte in Russland vorbereitet: "Wir haben umsichtig finanzielle Flexibilität aufgebaut."

Wintershall-Mitarbeiter schweigen

Vor vier Jahren, 2019, baute das Unternehmen nach der Fusion der Wintershall Holding GmbH und der Dea AG Stellen in Nordhessen ab. Droht nach dem Rückzug aus Russland eine neue Kürzung? Immerhin machte das Geschäft in Russland 2021 knapp 50 Prozent der Öl- und Gasproduktion von Wintershall aus, ein Fünftel des Gewinns stammte von dort.

Wie bewerten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Schritt ihres Arbeitgebers? Machen sie sich Sorgen um ihre Jobs? Leider erfährt man dazu nichts. Der hr hat zwar mit mehreren Menschen aus der Belegschaft gesprochen, doch niemand will sich zum Ende des Russland-Geschäfts und möglichen Konsequenzen für den eigenen Job oder den Standort Kassel äußern, noch nicht einmal anonym.

Gewerkschaft zuversichtlich

Ein Sprecher der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) äußert sich auf hr-Anfrage zuversichtlich. Weder dem Betriebsrat noch der Gewerkschaft sei mitgeteilt worden, dass es einen Personalabbau am Standort Kassel geben solle. Die Mitarbeiter, die nach Russland entsandt waren, müssten an anderer Stelle im Konzern eingebunden werden, sagt er unter Verweis auf die Betriebsratsvorsitzende Birgit Böl.

Ein Plakat mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Wintershall Dea vor der Konzernzentrale in Kassel.
Ein Plakat mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Wintershall Dea vor der Konzernzentrale in Kassel. Bild © Stefanie Küster (hr)

Den beabsichtigten Transformationsprozess des Unternehmens begrüßt die IG BCE. Er sei zum einen wichtig, damit "keiner der Beschäftigten ins Bergfreie fällt", zum anderen, um die gesetzten Klimaschutzziele zu erreichen, so der Sprecher. Dazu gebe es in mehreren europäischen Ländern Projekte zur Speicherung von CO2 per CCS-Technologie, an denen Wintershall Dea beteiligt sei. Dies habe bereits dazu beigetragen, Arbeitsplätze in Kassel zu sichern.

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CCS-Technologie

CCS steht für Carbon Capture and Storage und bedeutet die Trennung und Speicherung von Kohlendioxid. Dieses Verfahren soll künftig auch in Deutschland zum Einsatz kommen. Damit würde klimaschädliches CO2 unterirdisch eingelagert. Das Verfahren ist umstritten.

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Das Unternehmen will nach eigenen Angaben seine Geschäftsfelder umstellen, um zukünftig außerhalb Russlands moderat zu wachsen. Dafür investiere man in Lösungen zur Reduzierung von CO2-Emissionen, die bei der Energiewende eine wichtige Rolle spielten, teilt Wintershall Dea schriftlich mit.

Expertin: Ausstieg überfällig

Für Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kommt der Ausstieg aus dem Russland-Geschäft zu spät: "Die Entscheidung ist überfällig." Die jetzige Situation sei der Preis einer unternehmerischen Fehlentscheidung der vergangenen 15 Jahre.

Dazu seien alle Warnungen des DIW bis dato ausgeschlagen worden, sagt Kemfert. Wintershall Dea habe die Zusammenarbeit mit Russland sogar noch intensiviert. Dieses Risikogeschäft sei jetzt zusammengebrochen. Nun gelte es, damit umzugehen und alles dafür zu tun, um die Energiewende umzusetzen.

OB Geselle betont Bedeutung für Wirtschaftsstandort

Dass Wintershall Dea seine Aktivitäten in Russland einstellt und auf ein Milliardengeschäft verzichtet, wird Auswirkungen auf die Gewerbesteuereinnahmen der Stadt Kassel haben. Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), zugleich Stadtkämmerer, betont im Gespräch mit dem hr die Bedeutung des Unternehmens für Nordhessen: zum einen für die wirtschaftliche Entwicklung, zum anderen als Arbeitgeber.

Fehlende Einnahmen für die Stadtkasse besorgen den OB nach eigener Aussage derzeit nicht. "Wir sind resilient, was unsere Wirtschaft angeht", sagt er. Man habe ja nicht nur den einen Player mit Wintershall Dea, sondern verschiedene Unternehmen, die in der Stadt angesiedelt sind. Somit sei Kassel krisenfest.

Zuletzt hat Wintershall Dea aufgrund steigender Rohstoffpreise während der Energiekrise beim Gewinn ordentlich zugelegt. Der Rückzug aus Russland haut nun aber ins Kontor - auch für den Mutterkonzern BASF. Der Dax-Konzern teilte am Dienstagabend mit, ihm bleibe für 2022 unter dem Strich ein Fehlbetrag von rund 1,4 Milliarden Euro. Hauptursache dafür seien Abschreibungen auf Wintershall Dea in einer Gesamthöhe von 7,3 Milliarden Euro. 

Klimabündnis wirft Wintershall Ablenkungsmanöver vor

Umweltverbände kritisieren die Russland-Geschäfte des Kasseler Öl- und Gaskonzerns seit längerem. In der Vergangenheit gab es mehrfach Protestaktionen vor der Unternehmenszentrale, zuletzt wegen der Produktion von Gaskondensat für Gazprom, das in russischen Kriegsflugzeugen Verwendung finden könnte.

Arvid Jasper vom Bündnis Klimagerechtigkeit Kassel fordert auch nach dem angekündigten Rückzug des Konzerns aus Russland, dass Wintershall sich komplett aus dem fossilen Geschäft zurückziehe und keine neue Gas- und Ölförderung starte. Jasper wirft dem Konzern ein Ablenkungsmanöver vor. Das Russlandgeschäft sei in den letzten Monaten das gewesen, was dem Konzern am meisten Kritik eingebracht habe. Mit dem Schritt versuche Wintershall, "sich aus der öffentlichen Schusslinie zu bringen".

Umweltorganisation fordert Rücktritt des Vorstandschefs

Eine Sprecherin der Umweltorganisation Urgewald wirft dem Konzern "eine nicht zu überbietende Dreistigkeit" im Geschäftsgebaren vor: Wintershall Dea spekuliere angesichts einer möglichen Enteignung offenbar darauf, Bundesgarantien in Anspruch zu nehmen. "Damit würden schon wieder Milliarden an Steuergeld für die Russlanddebakel deutscher Energiemanager ausgegeben werden", moniert die Urgewald-Sprecherin. Sie fordert einen Rücktritt des Vorstandschefs Mario Mehren. 

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Der Konzern

Wintershall Dea ist 2019 aus der Fusion der Wintershall Holding GmbH und der Dea AG hervorgegangen. Das Unternehmen mit Sitz in Kassel und Hamburg beschäftigt weltweit rund 2.500 Menschen. Der Ludwigshafener Chemiekonzern BASF hält knapp 70 Prozent an Wintershall Dea. Der Rest gehört LetterOne, einer Beteiligungsgesellschaft, in der der russische Oligarch Michail Fridman seine Dea-Anteile gebündelt hat.

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Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 19.01.2023, 19.30 Uhr

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Quelle: hessenschau.de/Stefanie Küster, Fabian Schmidt, Leonie Rosenthal, dpa/lhe